Inhaltsverzeichniss
4.1 – 3 Entwicklung lässt sich nicht aufhalten
4.4 – 6 Individueller und universeller Geist
4.7 – 8 Ursache und Wirkung sind Karma
4.9 – 12 Wir sind Samskaras und Smritis
4.13 – 14 Gunas verändern Objekte und Geist
4.15 – 17 Überzeugung filtert die Wahrnehmung
4.18 – 21 Bewusstsein ist ewig
4.22 – 26 Wissen, Unterscheidung und Befreiung
4.27 – 28 Unterbrechungen der Erleuchtung
4.29 – 30 Ununterbrochene Erleuchtung
4.31 Das über den Geist Erfahrbare ist winzig
4.32 – 34 Gunas und Befreiung
Yoga Sutra 4.1-3 – Entwicklung lässt sich nicht aufhalten
Das 4. Kapitel des Yoga Sutra wird Kaivalya Pada genannt und ist sicherlich der am wenigsten beachtete Abschnitt der vier Teile in Patanjalis Werk, zumal im Kapitel 1 und 2 bekannte Modelle wie Ashtanga und Kriya vermittelt werden und im 3. Kapitel die Siddhis besprochen werden. Das 4. Kapitel beginnt mit einer Analyse verschiedener Wege zu übersinnlichen Fähigkeiten und bespricht dann die Ohnmacht des Suchenden aufgrund des unmöglichen Unterfangens, die Erleuchtung durch eigenen Willen zu erreichen.
4.1. „Übersinnliche Fähigkeiten können durch Geburt, Drogen, Zaubersprüche, Askese oder Überbewusstsein erreicht werden.“
Das 3. Kapitel dreht sich fast komplett um die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die man mit Hilfe von Samyama bekommen kann. Nun offenbart Patanjali, dass man auch durch andere Wege zu Siddhis kommen kann, wobei diese nicht im Widerspruch zur Methodik des Samyama stehen. Er nennt also 5 Methoden, um über das gewöhnliche Menschsein hinaus zu wachsen und Siddhis zu erlangen:
Geburt: Es gibt seltene Fälle von Inkarnierten, die bereits mit der Geburt ein hohes Bewusstsein und besondere Fähigkeiten haben. Beispiele für solche Menschen sind z.B. Sri Ramakrishna und Sri Anandamayi Ma, die beide bereits als Kinder besondere Zustände erlebten und verehrt wurden. Patanjali spricht in den Versen 19 und 20 des 1. Kapitels bereits darüber, er sagt, dass manche durch frühere Sadhanas in der neuen Geburt hohe Samadhis erleben und andere durch „Glaube, Wille, Erinnerung, objektive Betrachtung und Weisheit“ sich dorthin entwickeln.
Drogen: Hiermit soll keine Legitimierung für Drogenmißbrauch gegeben werden, sondern es geht darum, dass man durch den Konsum bestimmter Substanzen im richtigen Setting die Illusionen und falschen Konzepte zumindest temporär überwinden kann.
Mantras: Es gibt im Yoga große Traditionen, die sich auf die Arbeit mit mystischen Klangschwingungen spezialisiert haben. Man kann durch beständiges Wiederholen der entsprechenden Mantras spezifische Kräfte erwecken. Die Arbeit mit den „Zaubersprüchen“ kann durchaus auch für schwarzmagische Ziele genutzt werden, die schwarzen Tantriker haben sehr machtvolle Instrumente entwickelt, die den auf Befreiung zielenden Yogi aber nicht weiter interessieren sollten.
Askese: Ziel der intensiven Praxis ist die Zähmung der Sinne durch Kultivierung eines starken Willens, das kann sehr unterschiedlich interpretiert und gelebt werden. Es gibt sehr heftige Übungen, um über die Ebene des Persönlichen hinauszuwachsen und übersinnliche Zustände zu erreichen. Z.B. gibt es die „Sirshasins“, die sich vornehmen, sich niemals hinzusetzen oder gar hinzulegen, oder Yogis, die den Arm hochstrecken und ihn nicht mehr runternehmen. Das schadet natürlich dem Körper und wird daher nicht empfohlen, jedoch trainiert es den Geist ungemein.
4.2. „Durch das Überfluten mit der eigenen, inneren Natur entsteht der vollkommene Wandel.“
4.3. „Was dem Fluss der Natur im Wege steht, wird gebrochen, wie im Reisfeld so im Menschen.“ oder „So wie ein Feldbesitzer die Wasserschleusen des Reisfeldes zur rechten Zeit öffnet, kann auch unser Wille kein schnelleres Wachstum zur wahren Natur erzeugen.“
An einem gewissen Punkt müssen wir unser Wissen und unseren Willen loslassen und uns dem Strom hingeben. Wir müssen unserer Natur freien Lauf geben. Allerdings ist es schwierig, den genauen Punkt zu erkennen, wann wir die Anstrengung (Abhyasa) loslassen müssen (Vairagya), um uns ganz dem Fluss des Augenblicks hinzugeben. Dafür brauchen wir u.a. einen Guru.
Yoga Sutra 4.4-6 – Individueller und universeller Geist
Ich staune immer wieder über die Tiefe und Vielschichtigkeit der einzelnen Verse von Patanjalis Werk. Jeder einzelne Satz hat so viele Deutungsebenen und eben auch so viel Potential, um falsch gedeutet zu werden. Der Vergleich von verschiedenen Übersetzungen und Kommentaren ist wirklich sehr spannend und jedem zu empfehlen, der tiefer in das Yogasutra eintauchen will.
In diesem 2. Abschnitt des Kaivalya Pada vertieft Patanjali nochmals die Aussagen über die Überwindung der Identifikation mit der individuellen Persönlichkeit und die Entwicklung des Yogi hin zum kosmischen universellen Bewusstsein. Die zentrale Ursache für unsere Misere, also auch die Notwendigkeit zur Praxis des Yoga, ergibt sich aus der uns dominierenden Unwissenheit vom wahren, universellen Selbst.
4.4. „Das individuelle Gemüt entsteht nur durch die Ich-Identifikation.“
Durch die Identifikation unseres Geistes mit sich selbst und seiner angeblichen Individualität festigt sich selbiger in Form der persönlichen Psyche bzw. des Gemüts. Nur dadurch, dass wir uns für eine Person bzw. den Körper mit seinen Funktionen halten, generieren wir ein Geistfeld, welches uns einnebelt im schier endlosen Traum der Getrenntheit. Durch diese fatale Identifikation bekommen wir die starke Illusion eines individuellen Geistes und leiden unter der selbstgeschaffenen Begrenztheit.
4.5. „Die verschiedenen Tätigkeiten des Geistfeldes werden durch den einen Geist beherrscht.“
Das alles umfassende Bewusstsein liegt dem individuellen Geist zugrunde. Lösen wir die Identifikationen auf und überwinden so das starre egozentrierte Denken, können wir mit dem universellen Geist eins werden. Diese Einswerdung ist Ziel des Yoga. Sie ist Kaivalya, von dem in diesem Kapitel des Yogasutras die Rede ist. Der eine Geist, der sich in der Vielfalt offenbart, ist, was wir wirklich sind, nicht der Geist unserer selbstgeschaffenen Person.
4.6. „Bewusstsein aus Meditation entwachsen ist frei von persönlichen Eindrücken.“
Yoga Sutra 4.7-8 – Ursache und Wirkung ist Karma
Dieser Abschnitt 4.7-8 befasst sich mit dem Prinzip von Ursache und Wirkung und erläutert, wie der Yogi über das Karma hinauswachsen kann. Solange wir uns selbst auf die duale Perspektive begrenzen, erzeugen wir mit jeder einzelnen Handlung wieder neues Karma (Ursache und Wirkung), welches uns an den Daseinskreislauf bindet. Wenn sich durch die spirituelle Praxis unsere Identifikation mit dem scheinbaren Individuum auflöst, wird sich unsere Perspektive transformieren und wir erkennen die Einheit allen Seins.
4.7. „Handlungen sind für den Yogi weder schwarz noch weiß, für andere sind sie dreifach.“
Statt schwarz/weiß können wir auch gut/schlecht sagen.
4.8. „Daher werden die Programmierungen durch die Früchte des Handelns offenbar.“
Dieser Vers von Patanjali erinnert unmittelbar an das Jesuswort aus Mat.7.16:
„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“
Da alle unsere Handlungen aus unseren tiefsitzenden Programmierungen resultieren, werden diese in den Früchten unserer Handlungen deutlich.
Yoga Sutra 4.9-12 – Wir sind Samskaras und Smritis
In diesem Abschnitt geht es um die Samskaras und Smritis, also die Programmierungen und Erinnerungen, die als Essenz unserer irdischen Existenz unseren Kern bilden und die Zeit überdauern.
Es gibt viele Verse im Yogasutra, an denen ich große Freude entwickelt habe beim Arbeiten an meinen Kommentaren und Übersetzungen. Dieser Abschnitt gehört nicht dazu.
Manche Verse in Patanjalis Werk sind sehr schwierig zu verstehen und noch schwieriger, sie einigermaßen korrekt zu übersetzen. Bei diesen Versen fiel es mir sehr schwer herauszufinden, was Patanjalis Intention gewesen sein könnte, denn viele Kommentatoren analysieren diese Verse höchst unterschiedlich.
4.9. „Da Erinnerungen und Programmierungen ähnlich erscheinen, gibt es eine ununterbrochene Kontinuität in der Wiedergabe dieser Merkmale, auch wenn Geburt, Ort und Zeit dazwischen liegen.“
Der älteste erhaltene Kommentator des Yogasutra von Vyasa spricht in seinem Yoga Bhashya zu diesem Vers von einem „Karmischen Residuum“, welches erhalten beibt durch viele Inkarnationen hindurch, also unabhängig der drei genannten Faktoren. Also die karmischen Reste, welche gemeinhin als „Sanchita“ bezeichnet werden, können sich in künftigen Leben auf vielfältige Weise manifestieren, vor allem eben durch die Samskaras und Smritis.
4.10. „Sie (Samskaras und Smritis) sind anfangslos und durch Wünsche endlos.“
Man kann keinen Anfang der Erinnerungen und Programmierungen finden, sie bilden eine Kette ohne Anfang und ohne Ende. Am Ursprung stand der Wunsch zu leben, der wohl auch nicht aus dem Nichts entstand, sondern eine wesentliche und elementare Kraft hinter der Evolution bedeutet. Ebensowenig wie einen Anfang gibt es hier ein Ende, da jeder Wunsch wiederum neue Wünsche enthält und jede Wunschbefriedigung uns weiter an die Idee bindet: Glück sei durch die Erfüllung der Wünsche zu erreichen. Dieses ist der ewige Kreislauf, den wir als „Samsara“ bezeichnen. Die Befreiung daraus ist das Ziel des Yoga.
4.11. „Ursache, Wirkung, Basis und Objekt halten sie aufrecht, mit diesen verschwinden sie.“
Es geht hier wieder um die „Smritis und Samskaras“ aus dem 9.Vers, die zwar ewig sind, aber dennoch überwunden werden müssen, um die Freiheit „Kaivalya“ zu erlangen. Sie werden deshalb als ewig beschrieben, weil wir ewig in diesem Kreislauf feststecken, wenn wir uns nicht aktiv um die Befreiung bemühen.
4.12. „Die eigene Form existiert auch in Vergangenheit und Zukunft, Unterschiede in den Wegen folgen einer Ordnung.“
Die Zeit akkumuliert sich sozusagen immer in der Gegenwart. Die Vergangenheit und die Zukunft sind über den Augenblick zu jeder Zeit miteinander verbunden bzw. sie sind abhängig voneinander, weil das Kausalprinzip immer wirksam ist. Dieses wird manifest in den Samskaras und Smritis. Also über die Ketten von Ursache (Vergangenheit) und Wirkung (Zukunft) sind alle Ereignisse letztlich miteinander verbunden, jedoch sind die Impressionen selbstverständlich bloß in der Gegenwart erlebbar, so wie Vivekananda kommentiert:
„Das heißt, dass mein Sein niemals aus Nichtsein entstehen kann. Wenn auch Vergangenheit und Zukunft nicht sichtbar vorhanden sind, dann doch in subtiler Gestalt.“
Darüber hinaus filtert der Geist die Erinnerungen an die Vergangenheit auf drastische Weise und rückt sich selbst damit stets in ein passendes Licht. Dieses wiederum hat auch einen Effekt auf die Zukunft, da wir mit unseren Erwartungen und Intentionen unserem künftigen Erleben eine Richtung geben.
Yoga Sutra 4.13-14 – Gunas verändern Objekte und Geist
4.13. „Sie (Samskaras und Smritis) sind wahrnehmbar oder subtil in der Guna Natur.“
Vyasa kommentiert zu diesem Vers, dass die Samskaras und Smritis in der Gegenwart wahrnehmbar sind und in der Vergangenheit und Zukunft nur subtil bzw. unmanifest existieren. Die Samskaras und Smritis werden durch die Gunas bzw. durch sie bestimmt manifest erlebbar gemacht in der Gegenwart. Das ganze Universum existiert durch und als die Gunas. Nichts ist unberührt von den drei Wirkkräften, außer das reine Bewusstsein. Und so werden auch die Samskaras und Smritis durch die Gunas dominiert. Also die Art, wie wir uns in der Gegenwart von der Vergangenheit beeinflussen lassen, hängt von unserem Denken und Fühlen ab, denn sie wird durch die Natur der Gunas bedingt.
4.14. „Durch die Entwicklung zum Wesentlichen erkennt man die wahre Natur der Erscheinungen.“
Yoga Sutra 4.15-17 – Überzeugung filtert die Wahrnehmung
Die Wahrnehmung des Menschen wird durch seine Überzeugungen gefiltert und eingeschränkt. Je nachdem wie wir über die Welt denken bzw. welche Konzepte wir über die Wirklichkeit haben, wird unser Geist uns darin vorwiegend bestätigen. Erfahrungen, die nicht unserem Weltbild entsprechen, werden leider meist nicht bewusst wahrgenommen, sondern ignoriert und verdrängt.
4.15. „Die gleichen Objekte werden durch Bewusstseinszustände in unterschiedlichen Wegen verschieden erfasst.“
Mit „unterschiedlichen Wegen“ meint Patanjali hier die individuellen Fortschritte und Blickwinkel der Suchenden. Alle bewegen sich auf das gleiche Ziel hin, stehen aber an unterschiedlichen Standpunkten auf dem Weg. Also je nachdem, wo man steht und mit was man sich so beschäftigt bzw. was man gerade denkt und fühlt, wird man die Dinge anders betrachten.
4.16. „Objekte existieren unabhängig davon, ob sie vom Medium der Wahrnehmung erfasst werden.“
4.17. „Je nachdem wie stark das Bewusstsein ein Ding wahrnimmt und verfärbt, ist es bekannt oder unbekannt.“
Wir sehen die Welt immer durch den Filter unserer Überzeugungen. Auch wenn wir meinen, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, tragen wir jedoch immer eine Brille aus unseren Denkweisen, welche die Wahrnehmung begrenzen. Alles, was wir wahrnehmen, ist verfärbt durch unser Denken. Je mehr Filter (= Überzeugungen) wir haben, desto weniger nehmen wir die objektive Wirklichkeit wahr. Uns sind also die Objekte „bekannt“, wenn wir wenig Filter und Überzeugungen haben und „unbekannt“, wenn wir die Wahrnehmung verfärben.
Yoga Sutra 4.18-21 – Bewusstsein ist ewig
In diesem Abschnitt des 4. Kapitels spricht Patanjali über den Geist und seine Beziehung zum Absoluten. Immer wieder wird in den verschiedenen Standpunkten der Yogaphilosophie diese Beziehung beleuchtet.
Das wahre Selbst ist die beobachtende Instanz im Inneren. Sie wird im Samkhya als Purusha bezeichnet, im Vedanta als Atman und im Tantra als Shiva. Es ist nicht der Geist, der sich erleuchtet, sondern das Bewusstsein leuchtet, wenn der Geist durchlässig geworden ist.
4.18. „Das wahre Bewusstsein ist ewig unveränderlich, es nimmt die Impulse im Geist wahr.“
Wie im Rahmen meiner Kommentare zum Yogasutra bereits mehrfach erläutert, liegt der Philosophie Patanjalis die Lehre des Samkhya zugrunde. Die Samkhya-Philosophie hat eine duale und sogar atheistische Sichtweise, in der zwischen dem reinen Bewusstsein „Purusha“ und dem wahrgenommenen „Prakriti“ unterschieden wird. Patanjali erweitert diese Lehre noch um die Konzepte von „Ishvara“ und „Viveka Khyati“, also dem höchsten Ideal wie z.B. Gott und der ununterbrochenen Unterscheidung als Praxis.
In diesem Vers spricht Patanjali über Purusha als das beobachtende Bewusstsein, welches Prakriti als beobachtetes Objekt wahrnimmt. Aus dem Standpunkt des reinen Bewusstseins ist jede Erfahrung im Geist nur ein Objekt, welches kommt und geht. Im Gegensatz zum Advaita Vedanta gibt es im Samkhya die Trennung von diesen beiden Ebenen, denn im Advaita gibt es nur das Eine.
4.19. „Der Geist ist nicht selbst-erleuchtend, da er wahrnehmbar ist.“
Der Geist wird durch die Instanz des Beobachters wahrgenommen.
4.20. „Es ist nicht beides zugleich erfassbar.“ oder „Es kann nicht zweierlei zugleich erfasst werden.“
Wir können nicht die duale Perspektive einnehmen und zugleich das Nonduale erkennen. Um die Einheit allen Seins zu erkennen, müssen wir gänzlich das Duale loslassen.
4.21. „Würde ein Geist einen anderen Geist wahrnehmen, dann gäbe es die Absurdität von Wahrnehmung der Wahrnehmung sowie eine Verwirrung der Erinnerung.“
Dieser Vers kann sehr unterschiedlich interpretiert werden:
Es geht darum, dass der Geist des einen nicht den Geist eines anderen wahrnehmen kann und soll. Zwar gibt uns Patanjali in seinem 3. Kapitel auch Methoden zum Gedankenlesen, jedoch führt das mit Sicherheit zu großer Verwirrung. Es kann zwar der Geist eines anderen erahnt werden, jedoch nicht vollkommen erkannt. Auf dem Weg zum wahren Selbst unterliegen wir des Öfteren der Illusion. Wir könnten das Selbst wahrnehmen bzw. wie ein gewöhnliches Objekt beobachten, aber das ist nicht möglich.
Yoga Sutra 4.22-26 – Wissen, Unterscheidung und Befreiung
In diesem Abschnitt des Kaivalya Pada führt Patanjali nochmals aus, wie wichtig eine klare Unterscheidung zwischen dem gesehenen und dem Seher ist. Ohne Fokussierung des Geistes und Unterscheidung seiner Funktionen kann die Freiheit von den eigenen Mustern nicht erfolgen. Auch wenn verstanden ist, wer ich bin, werden die Programmierungen immer wieder die Kontrolle übernehmen.
4.22. „Wenn der Geist nicht mehr umherzieht, kommt die Erkenntnis der wahren Form.“
Man kann sagen, dass sich das ganze Yoga nur darum dreht, endlich Ruhe in den Geist zu bringen. Wenn der Geist durch die Praxis des Yoga zur Ruhe kommt, wird der Zustand des Yoga erreicht. Im Zustand des Yoga wird das wahre Selbst erkannt, welches zuvor durch die Gedanken verschleiert wurde. Unsere Überzeugungen und tief sitzenden Denkmuster legen einen Filter vor den Geist und sie verzerren damit die Wahrnehmung.
Dieser Vers spielt auf den zweiten und bekanntesten Vers des Yogasutras an. Dort wird gesagt:
„Yoga ist das zur Ruhe bringen der Gedankenwellen im Geiste.“
4.23. „Daher ist das Geistfeld durch den Wahrnehmenden das Wahrgenommene gefärbt und hat das Potential, Objekte direkt zu erfassen.“
Der Geist wird immer von seinem Umfeld gefärbt, also er nimmt die Gestalt dessen an, mit dem er sich gerade beschäftigt.
4.24. „Auch wenn die unzählbaren Konditionierungen vielfältig im Geist wirken, ist sein wahrer Sinn zu kooperieren.“
Auch bei diesem Vers sind die möglichen Übersetzungen wieder sehr vielfältig. Im Zweifelsfall orientiere ich mich dann immer am Yoga Bhashya des Vyasa, da es als älteste Übersetzung gilt. Inzwischen gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass Patanjali selbst sein Sutra mit den Kommentaren „Bhashya“ geschrieben hat.
Im Bhashya steht geschrieben, dass der Geist keinen Selbstzweck hat, sondern es einen höheren Sinn für seine Vielfalt geben muss. Dieser liegt im Erreichen des Höheren und darin, dieses anderen zu vermitteln. Und so gilt es, wie in Vers 4.32 ausgeführt, den Geist zur Kooperation zu bringen. Ihn zum Instrument für das reine Bewusstsein zu machen.
Auch hier nochmals Swami Durgananda:
„Geist und Atman sind sehr eng verstrickt, der Geist ist ein Objekt und Objekte verändern sich dauernd.“
Wenn wir lernen, die Bewegungen des Geistes zu beobachten und unsere Verstrickungen damit zu lösen, kommt der Geist zur Ruhe und das wahre Selbst kann aus sich heraus strahlen.
4.25. „Erkennt man den Unterschied, kommt der zweifelnde Geist zur Ruhe und man erkennt das wahre Selbst.“
Hier spielt Patanjali nochmals auf den zentralen Vers 2.26 an, wo es um die ununterbrochene Unterscheidung (viveka-khyāti) geht.
Die wichtigste Praxis ist die klare Unterscheidung zwischen Prakriti und Purusha, bzw. zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen. Je mehr wir die inneren Vorgänge losgelöst beobachten, desto weniger wird der Geist durch seine Bewegungen verhüllt.
Swami Viveka kommentiert hier:
„Durch Unterscheidung weiß der Yogi, dass der Purusha mit der Denksubstanz nicht identisch ist.“
4.26. „Dann hat der Geist Unterscheidungstiefe und steht vor der Befreiung.“
Hier wird es nochmals ganz klar: Durch die klare Trennung von Beobachter und dem, was beobachtet wird, gelangen wir zur Einheit beider. Es ist wie ein paradoxes Nadelöhr, durch das wir hindurch müssen. Wir lösen uns von der Welt, um eins mit ihr zu werden.
Yoga Sutra 4.27-28 – Unterbrechungen der Erleuchtung
Dieser vorletzte Abschnitt des Yogasutras enthält nochmal ein Konzept, das es in sich hat. Patanjali betont, dass bis zum letzten Schritt immer wieder die alten Muster überhand nehmen können und die Auflösung verhindern.
4.27. „Impulse aus den alten Programmierungen unterbrechen die Unterscheidung.“
Man kennt ja die Geschichten der gefallenen Gurus. Menschen, die tiefe Erkenntnisse hatten, eine tiefe Konzentration erreicht haben oder eine besondere Reinheit haben, werden als Gurus verehrt. Aber wenn die Befreiung nicht wirklich erreicht wurde, schlummern im Unbewussten noch die hartnäckigen Programmierungen.
Beispielsweise sexuelle Begierden können sehr stark werden. Wenn dann ein männlicher Guru zugleich viele junge Frauen als Schülerinnen hat, können sich die Programme auf sehr destruktive Weise Raum verschaffen. Hier nochmals ein Zitat von Swami Vivekananda aus einem Kommentar zu diesem Vers. Übrigens bin ich bei meiner Arbeit immer mehr begeistert von seinen klaren Kommentaren. Sehr zu empfehlen! „Die vielen Gedanken, die in uns aufsteigen und uns weißmachen wollen, wir brauchen etwas von außen zu unserem Glück, stehen jener Vollkommenheit im Wege.“
4.28. „Diese werden beseitigt, wie bei den Kleśas gesagt.“
In Vers 2.3 beschreibt Patanjali die fünf Ursachen des Leidens bzw. die Gebrechen: avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśaḥ. Er sagt hier im Vers 4.28, dass „sie beseitigt werden“, er meint wohl die Programmierungen.
Laut Swami Vivekananda und Georg Feuerstein spielt er hier auf die Verse 2.10 und 2.11 an, in denen beschrieben wird, wie man das Leiden und die Unwissenheit überwindet: „Den subtilen Ursachen des Leidens soll an ihrer Wurzel entgegengewirkt werden.“ oder „Werden die Leidensursachen beim Aufkeimen gemieden, so bleibt ihr subtiler Einfluss gering.“ „Die aktiven Formen der Leiden können durch Meditation überwunden werden.“ oder „Durch Meditation werden die leidvollen Gedankenwellen vermieden.“
Es geht hier um „Pratiprasava“, die Praxis der Involution. Also das immer wieder nach innen Wenden, um das Aufkommen der Gedankenwellen bereits an der Wurzel zu unterbinden. Ebenso wie die Praxis der Meditation ist auch das Üben der ununterbrochenen Unterscheidung niemals beendet. Also auch wenn man sich für befreit hält, gilt es weiter zu praktizieren.
Yoga Sutra 4.29-30 – Ununterbrochene Erleuchtung
4.29. „Ist bei der Meditation jeder Wunsch verschwunden, kommt die dauerhafte Unterscheidung, man erreicht die Dharmawolke und ist im Samadhi.“
Obwohl auf dem Weg zur spirituellen Befreiung der Wunsch nach selbiger den Hauptanziehungspunkt darstellt, gilt es, diesen am Ende ganz loszulassen. Ja, der Wunsch nach Erleuchtung muss fallen gelassen werden, um die Erleuchtung zu erreichen. Wenn das irgendwann geschieht, wird die Unterscheidung dauerhaft und natürlich, und man erreicht das höchste Bewusstsein. Dazu gibt es den Vergleich mit dem Erklettern eines Hausdaches. Man benötigt eine Leiter, die man Sprosse für Sprosse empor steigt. Der letzte Schritt jedoch ist jener, der von der Leiter auf das Dach geht. Man muss die Leiter loslassen, um das Ziel des Daches zu erreichen. Ebenso muss man den unbedingten Wunsch, zur Befreiung zu gelangen, im letzten Schritt loslassen.
4.30. „Damit endet Leid und Karma.“
Der Yogi ist dann eins mit allem, jegliche Trennung ist vergangen und aus der Bewusstheit der Alleinheit agiert er im völligen Einklang. Alles, was im begrenzten Geist des Suchenden erfahren wird, ist unbedeutend gegenüber dem kosmischen Bewusstsein. Jedoch: Wie können wir die beiden Begriffe in dem Kontext verstehen? Was bedeutet es, kein Leid und kein Karma mehr zu erleben?
Leid: Zunächst mal müssen wir verstehen, dass wir unterscheiden können, zwischen destruktiven oder schmerzhaften Erfahrungen, und dem daraus entstehenden Leid. Es gibt die schöne Aussage: „Schmerz ist unvermeidbar, Leid nicht.“ Denn es ist eine Frage des Umgangs mit den Erfahrungen, ob wir nun darunter leiden, oder nicht. So hatte Ramana Maharshi aufgrund seines Tumors an der Schulter große Schmerzen, und sein Körper krümmte sich vor Schmerz. Jedoch war sein Geist frei und aus ihm heraus strahlte das höchste Bewusstsein. Wenn wir die Einheit erfahren bzw. erkannt haben, ist jedes irdische Erleben banal und unbedeutend.
Karma: Der befreite Weise ist stets im Einklang mit seiner Umwelt, sonst wäre er nicht befreit. Jede Handlung erfolgt aus Impulsen, die dem Jetzt entspringen, ohne Färbungen durch das Ego. Also erzeugt auch keine Tat neue Kausalketten, die auf den Handelnden zurückfallen. Was es jedoch gibt, sind Wirkungen vergangener Taten, die auf den Yogi zurückfallen. Das Prarabhda-Karma ist bis zum Lebensende aktiv.
Yoga Sutra 4.31 – Das über den Geist Erfahrbare ist winzig
4.31. „Von allen Schleiern und Schmutz befreit, wird das relative Wissen des Geistes winzig gegenüber der unendlichen Erkenntnis.“
Alle Schleier, Filter, Unreinheiten, Gewohnheiten, Muster und Begrenzungen des Geistes sind aufgelöst. Der Yogi hat vollkommen erkannt, dass er verschmolzen ist mit der Einheit allen Seins.
Yoga Sutra 4.32-34 – Gunas und Befreiung
Im allerletzten Abschnitt des Yogasutras erläutert Patanjali nochmals die Vorzüge der spirituellen Befreiung. In den drei Versen geht es darum, dass der Yogi nicht mehr berührt ist vom Auf- und Ab dieser Welt. Die Eigenschaften der Natur haben ihre Macht verloren. Raum und Zeit lösen sich für den Yogi auf, und das Streben löst sich in Leere auf. Alles verschmilzt zu einem unendlichen Punkt im Fluss des ewigen Augenblicks.
4.32. „Ist das Ziel erreicht, endet der Wandel der Gunas.“
Nun spricht er über die Transzendenz der Wirkkräfte der Natur. Der Yogi wird zum Triguṇātita, dem, der die Gunas überwunden hat.
So sagt die Bhagavad Gita in Vers 14.26:
„Wer Mir mit unerschütterlicher Hingabe dient, geht über die drei Eigenschaften hinaus und ist geeignet, Brahman zu werden.“
Nur dass eben das Yogasutra nicht nur den Weg der Hingabe empfiehlt, sondern die Überwindung der Dualität vor allem über die ununterbrochene Unterscheidung und die Meditation. Die Gunas wirken weiter in der Welt und auch im Körper-Geist-Seele-Komplex des Yogis, aber er hat die Einheit erkannt und agiert unabhängig dieser Naturkräfte.
4.33. „Die Beziehung einzelner Momente wird wahrnehmbar und Veränderung kommt als Folge zum Ende.“
Der befreite Yogi bekommt tiefe Einsichten in die Natur der Wirklichkeit. So löst sich auch die Wahrnehmung von Raum und Zeit mitunter auf, und man bekommt eine tiefere Sicht in die Dinge, jenseits der Matrix. Man erkennt, dass Zeit tatsächlich eine Illusion ist, obwohl man zugleich in ihrem Ablauf existiert. Das sind Erfahrungen, die man nicht befriedigend beschreiben kann. Daher einige Zitate aus dem jeweiligen Kommentar zu diesem Vers.
Swami Vivekananda:
„Für die Denksubstanz, die der Allgegenwart inne wurde, gibt es keine Aufeinanderfolge mehr. Alles wurde für sie Gegenwart; für sie gibt es nur noch diese, aber keine Vergangenheit und Zukunft mehr.“
Swami Jnanananda:
„Denken Sie an eine Filmrolle. Sie können sie und alle Einzelbilder in Ihrer Hand in einem Moment halten, und doch erwecken Sie, wenn Sie den Film über einen Projektor abspielen, den Anschein von Zeit. Es liegt an der Abfolge der Einzelbilder, eines nach dem anderen, dass es den Anschein von Zeit gibt.“
Swami Durgananda:
„Rückblickend stellt man fest, dass es sich nur um aufblitzende Bilder gehandelt hat, eine Abfolge von unterschiedlichen Augenblicken, in denen das sich verändernde Spiel der Eigenschaften der Natur stattfindet.“
4.34. „Wenn alles Streben sich in Leere auflöst und die Gunas transzendiert sind, wird die Befreiung den Geist erfüllen. Ende.“
Wenn der Yogi die Alleinheit erkannt und/oder erfahren hat, gibt es keinen Grund mehr, nach etwas zu streben. Der Sehende verweilt dann in seiner wahren Natur, wie Patanjali bereits im Vers 1.3 erläuterte. Patanjali nutzt hier den Begriff „puruṣārtha“, welcher für die vier Ziele des Menschen steht. Alle Ziele sind erreicht, wenn die Befreiung den Geist erfüllt. Es gibt nichts mehr zu tun, außer alles das, was im Fluss des Augenblicks auftaucht.
Ein solcher Yogi ist absolut spontan, ohne innere Antriebe, die ihn irgendwohin streben lassen, da all seine Programmierungen sich im Sein aufgelöst haben. Er hat sich vollkommen dem Dienst an die Schöpfung zur Verfügung gestellt. Für ihn gibt es kein Ich und die Anderen, sondern nur das Alleine, das ungeteilte Bewusstsein.
Swami Vivekananda schreibt hierzu in seinem Kommentar:
„Die von der Natur gestellte Aufgabe ist erfüllt, diese uneigennützige Aufgabe, die uns von unserer freundlichen Amme, der Natur, auferlegt wurde. Sie nahm gleichsam die selbstvergessene Seele gütig bei der Hand und zeigte ihr alle Erfahrungen der Welt, alle Manifestationen, und führte sie immer höher hinaus durch verschiedene Körper hindurch, bis die Seele ihre verlorene Herrlichkeit wiederfand und sich auf ihr eigenes Wesen besann. Dann ging die Mutter den gleichen Weg zurück, um anderen beizustehen, die sich in der pfadlosen Wüste des Lebens verlaufen haben.“
Damit ist es vollbracht.
Übersetzung und Kommentare von Narada: www.vedanta-yoga.de