Inhaltsverzeichniss
2.1 – 2 Kriya Yoga als Orientierung auf dem Weg
2.3 – 9 Ursachen des Leidens (Kleshas)
2.10 – 11 Abbau der Leiden und Meditation
2.12 – 14 Das leidvolle Wirken des Karma
2.15 – 17 Sich vom Leiden lösen
2.18 – 20 Die Wirkkräfte und das wahre Selbst
2.21 – 24 Über das Wandelbare und Identifikation
2.25 – 26 Unterscheidungskraft befreit von Unwissenheit
2.27 – 29 Einleitung zum Ashtanga – 8 Glieder des Yoga
2.30 – 34 Hinführung zu den Yamas und Niyamas
2.35 – 39 Yamas – Die Enthaltungen
2.40 – 45 Niyamas – Empfehlungen für das eigene Leben
2.46 – 48 Körperhaltung (Sthira Sukham Asanam)
2.49 – 53 Pranayama – die 4. Stufe des Ashtanga
2.54 – 55 Pratyahara – die Sinne umkehren
Yoga Sutra 2.1-2 – Kriya Yoga als Orientierung auf dem Weg
Nachdem wir im ersten Kapitel des Patanjali-Yogasutras „Samadhi-Pada“ viele Grundlagen des Raja Yoga kennen lernten und uns mit den höchsten überbewussten Zuständen befasst haben, wird es nun konkreter. Das zweite Kapitel wird „Sadhana Pada“ genannt, also „Über die spirituelle Praxis“. Es geht grob gesagt zunächst um die Leiden und deren Überwindung und später um die ersten 5 Glieder des Ashtanga.
2.1. „Üben voller Hingabe, Selbstreflexion und Disziplin ist Yoga des Handelns.“
Diese drei Begriffe bilden die grundsätzliche innere Einstellung für jede spirituell motivierte Handlung. Kriya Yoga ist wie ein Kompass, um uns auf dem Weg immer wieder auf das Ziel des Yoga auszurichten. Später im Text wird erst klar, dass Patanjali die drei Punkte des Kriya-Yoga auch zu den Niyamas zählt, also den Regeln für den Umgang mit sich selbst.
Disziplin (Tapas): das innere Feuer, die Begeisterung, der unbedingte Wille sich spirituell zu entwickeln, die Bereitschaft zur inneren Disziplin. Die alten Yogis wurden „Tapasvins“ genannt, also die Asketen oder die Willensstarken. Wobei es nicht um ein äußeres Entsagen geht, sondern um eine innere Loslösung.
Selbstreflexion und Studium der Schriften (Svādhyāya): die Reflexion über das Selbst als korrektiv oder auch die innere Führung durch die Orientierung an den klassischen Schriften. Letztlich wollen wir ja den Verstand überwinden, daher benutzen wir die Schriften und die Selbstreflexion, um über die Begrenzungen der Konzepte hinaus zu gehen.
Hingabe (Iśvarapraṇidhānāna): die Hingabe oder Demut gegenüber einem persönlichen Aspekt oder einer Form von Gott.
Disziplin: Enthaltsamkeit, gewählte Armut, Disziplin in der Übung, Rückzug, Retreat…
Selbstreflexion und Studium der Schriften: Bibelexegese, Rezitationen, Selbsterforschung,…
Hingabe: Gebete, Rituale, Gesänge,…
Ebenso stehen die drei Methoden des Kriyayogas für die drei Yogawege der Bhagavad Gita:
Disziplin: Karma Yoga
Selbstreflexion und Studium der Schriften: Jnana Yoga
Hingabe: Bhakti Yoga
2.2. „Ist die Praxis auf das Ziel ausgerichtet, dann werden die Leiden auf dem Weg verschwinden.“ oder „Kriya Yoga vermindert die Ursachen des Leidens und führt Überbewusstsein herbei.“
Swami Vivekananda sagt in seinem Kommentar zu diesem Vers: „Die meisten von uns behandeln ihr Denkorgan wie ein verwöhntes Kind, das tun und lassen kann was es will.“ Und so nutzen wir die dreifache Praxis des Kriya-Yogas, um den Geist zu beherrschen. In diesem Vers sagt Patanjali nochmals sehr knapp, wozu wir Kriya Yoga üben sollen: Um die Ursachen des Leidens auszudünnen und um den Geist auf Samadhi vorzubereiten. Wir öffnen durch das Kriya Yoga eine Tür in ein höheres Bewusstsein, in das wir bei totaler Konzentration (Dharana) zunächst hineinfallen (Dhyana), um von dort herausgehoben zu werden (Samadhi).
Yoga Sutra 2.3-9 – Ursachen des Leidens (Kleshas)
2.3. „Unwissenheit, Identifikation mit dem Wandelbaren, Anziehung und Ablehnung sowie Furcht vor dem Tod sind die Ursachen des Leidens.“
Unwissenheit: Die Unwissenheit über das Wesen des Selbst bzw. die Unkenntnis über die Wirklichkeit jenseits der Illusion.
Identifikation mit dem Wandelbaren: Das Festhalten an der Idee, ein begrenztes, vergängliches und individuelles Wesen zu sein.
Anziehung: das Streben nach schönen Erfahrungen, von denen wir annehmen, darin echtes Glück zu finden.
Ablehnung: Das Ablehnen von schlechten Erfahrungen in der Annahme, dass sie unser wahres Glück verhindern.
Furcht vor dem Tod: Das Festhalten am Leben und die Angst davor, den Körper und diese Welt zu verlassen.
Letztlich ist Unwissenheit die Quelle allen Leidens, also auch die Ursache der anderen Kleshas. Und so kann uns die Erkenntnis der wahren Natur des Selbst auch von allen anderen Leiden befreien. Im weiteren Text erläutert Patanjali dann die einzelnen Kleshas.
2.4. „Fehlende Erkenntnis ist der Nährboden für die übrigen Leiden, diese Unwissenheit kann schlummernd, keimend, ausgewachsen oder übermächtig sein.“ oder „Unwissenheit ist die Ursache der nachfolgenden Leiden. Sie sind schlafend, gering, unterbrochen oder aktiv.“
Also alles Leiden bzw. alle Hindernisse auf dem spirituellen Weg kommen von der Unwissenheit bzw. vom Nichterkennen. Wenn wir Unwissenheit überwunden haben, wissen wir dass:
Identifikation: der Körper, die Gedanken und Gefühle, Ich als Individuum und die Begrenztheit, nur eine Illusion ist.
Anziehung: Nichts in der Welt uns glücklich machen kann, weil das Selbst an sich höchste Glückseligkeit ist.
Ablehnung: Es nichts gibt, was uns aus der Erfahrung der absoluten Wonne des Selbst holen kann.
Furcht vor dem Tod: Im Todesfalle nur die Hülle vom wahren Selbst abfällt und wir in Wahrheit unsterblich sind.
2.5. „Vergängliches mit Ewigem, Unreines mit Reinem, Leidbringendes mit Freudvollem, Nicht-Selbst mit dem wahren Selbst zu verwechseln, wird Mangel an Erkenntnis genannt.“
2.6. „Verwechslung des Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen wird Identifikation mit dem Vergänglichen genannt.“
Wenn wir nicht wissen oder erkennen, dass wir das unsterbliche Selbst jenseits des Körpers mit all seinen Funktionen sind, identifizieren wir uns natürlich mit unserem Werkzeug. Wir glauben, der Körper, die Gefühle, die Gedanken, unsere Besitztümer, unsere Konzepte und unsere Vorstellung von uns selbst zu sein. Da aber all diese genannten Punkte Veränderungen unterworfen und vergänglich sind, verursachen sie Leiden. Unsere Identifikationen, die wir mit uns und den Ideen über uns haben, sitzen sehr tief. Durch fortlaufende Unterscheidung, wie im letzten Vers erläutert, erkennen wir mehr und mehr, dass wir einer Illusion zum Opfer gefallen sind. Wir sind nichts von dem, was wir wahrnehmen können, sondern wir sind das Bewusstsein, in dem das alles stattfindet.
2.7. „Verlangen ist das, was am Wohlbefinden festhält.“ oder „Anziehung ist das, was sich mit Vergnügen beschäftigt.“
2.8. „Ablehnung ist das, was am Unglück festhält.“
Anziehung und Ablehnung sind wie zwei Seiten einer Medaille: Sie gehören zusammen und müssen beide zugleich überwunden werden. Sehr viel von unserer Energie geht dadurch verloren, dass wir immer danach trachten, etwas zu bekommen oder etwas zu vermeiden. Wir wollen immer etwas Schnelleres, Besseres, Größeres und anderes, anstatt uns zufrieden zu geben mit dem, was wir haben. Ebenso versuchen wir ständig Dinge zu vermeiden, von denen wir annehmen, dass sie uns unglücklicher machen könnten. Letztlich ist das, was wir auf dem spirituellen Weg zu erreichen versuchen, jenseits von aller Bewegung, allen Konzepten und allem Lärm. Jede Anziehung und Ablehnung entfernt uns von dem Selbst, da es immer eine Bewegung irgendwo hin ist, bzw. ein ‚Nicht haben wollen‘ von dem, was ist.
2.9. „Die Todesangst besteht aus sich selbst heraus, auch Weise sind davon betroffen.“ oder „Der Wunsch nach Beständigkeit ist, an der eigenen Persönlichkeit zu hängen, es geschieht auch den Weisen.“
Yoga Sutra 2.10-11 – Abbau der Leiden und Meditation
Nachdem Patanjali in den ersten 9 Versen des 2. Kapitels des Yoga Sutra die Kleshas und das Kriya Yoga genau erläutert hat, geht er hier nun darauf ein, wie man die Vrittis, die aus den Kleshas entstehen, auflösen kann. Die einzelnen Verse und die erläuterten Praktiken bauen dabei systematisch aufeinander auf.
2.10. „Den subtilen Ursachen des Leidens soll an ihrer Wurzel entgegengewirkt werden.“ oder „Werden die Leidensursachen beim Aufkeimen gemieden, so bleibt ihr subtiler Einfluß gering.“
Die Aussage macht natürlich an sich sehr viel Sinn. Klar ist es gut, ein Problem mit der Wurzel herauszureissen – keine Frage, aber wie können wir diesen Vers im Zusammenhang mit den anderen betrachten? Patanjali sagt, wenn wir ein Problem bereits beim Entstehen an der Ursache meiden, werden wir kaum beeinflusst durch die Wirkungen. Also müssen wir die leidvollen Wirkungen, die sich uns als Erfahrung zeigen, wieder zurückführen zu dem jeweiligen Klesha, welches wir als Ursache identifizieren können, um sie zu überwinden.
Es werden also die auftretenden Leiden durch Svadhyaya (Sebstreflexion) immer wieder zurückgeführt zu ihrem Ursprung, also dem entsprechenden Klesha. Das können wir bewerkstelligen, indem wir die 5 Kleshas einzeln in Bezug setzen zum auftretenden Problem. Wenn wir dazu die Kleshas rückwärtig betrachten und sie vom Groben ins Feine zurückverfolgen, kommen wir immer zur Wurzel: Unwissenheit. Da letztlich alle aufretenden Probleme aus Verwechslung bzw. Unwissenheit kommen, können wir sie dadurch auflösen, sie ins rechte Licht zu rücken. Erkennen wir also klar das Problem und setzen es mit der Ursache in Verbindung, löst es sich wie von selbst auf. Hier wird dieser Vorgang Pratiprasava genannt. Dies gleicht dem später im Text auftauchenden Pratyahara und lässt sich gut mit Involution übersetzen. Tatsächlich gehen wir im Yoga davon aus, dass sich alle Probleme im eigenen Geist auflösen lassen, wenn wir nur die Wurzel durch ‚Erkennen‘ auflösen.
Und so ist die essentielle Praxis, ein wachsendes Verständnis für das Funktionieren des eigenen Geistes zu bekommen. Patanjali hat uns hierfür die nötigen Mittel schon aufgezeigt, die nun immer wieder zum Einsatz kommen. Zum Beispiel wird hier einerseits Vairagya und Abhyasa, also Beharrlichkeit und Losgelöstheit, angewendet. Das bedeutet: Man bemüht sich zwar, bewusst zu sein über die Wurzel des Leidens, und strengt sich an, darüber hinaus zu wachsen, während man jedoch zugleich dabei locker und losgelöst bleibt. Und dann nutzen wir auch die Praxis des Kriya Yogas, um mit dem Leiden umzugehen: Mit Tapas können wir die Geisteskräfte sammeln, mit Svadhyaya das Geistfeld analysieren und mit Ishvara-Pranidhana vertrauen wir uns dem Fluss des Augenblicks bedingungslos an. Aber eben nur durch bewusstes, gleichmütiges und neutrales Hinschauen, Fühlen, Spüren und Wahrnehmen (der Wurzel) können wir der Sache (Klesha) auf den Grund gehen und sie auflösen. Funktioniert.
2.11. „Die aktiven Formen der Leiden können durch Meditation überwunden werden.“ oder „Durch Meditation werden die leidvollen Gedankenwellen vermieden.“
Wenn wir leidvolle Gedankenwellen wahrnehmen, wissen wir, dass sie letztlich den Kleshas entspringen, und sie können durch einen meditativen Geist aufgelöst werden. Vivekananda sagt:
„Meditation ist eines der großen Mittel, diese Wellen am Entstehen zu hindern.“
Yoga Sutra 2.12-14 – Das leidvolle Wirken des Karma
2.12. „Aus den Leidensursachen resultieren Neigungen, aus denen sichtbare und unsichtbare Handlungen und deren Folgen entspringen.“ oder „Grundlage des Leidens ist der Vorrat an Handlungskonsequenzen, der im gegenwärtigen oder im zukünftigen Leben erfahren wird.“
Hier sagt Patanjali also ganz klar, dass alles Karma aus den Kleshas erwächst.
Die drei Arten des Karma besser verstehen:
Agami Karma: das Karma, das jetzt durch (ichbezogene) Handlung neu gebildet wird.
Sanchita Karma: der Speicher allen Karmas aus allen Leben der Vergangenheit
Prarabdha Karma: Das gegenwärtige Erleben als Frucht vergangener Handlungen
Womöglich wird es durch diesen Satz noch deutlicher:
„Jede ungesunde Gewohnheit schafft Agami Karma, akkumuliert sich als Sanchita Karma und äußert sich als Prarabda Karma.“
Und diese ungesunden Gewohnheiten führen wir aus der Verbindung mit den Kleshas aus und schaffen dann neues Karma für die Zukunft. Sicher wird es deutlicher, wenn wir dieses Prinzip in Bezug zu den einzelnen Kleshas anschauen:
Unwissenheit: führt dazu, dass wir uns mit dem Handeln immer weiter verstricken.
Identifikation mit dem Wandelbaren: Egoistisches Wirken fällt unmittelbar auf uns zurück.
Anziehung: Die Begierde des Menschen wächst stetig an.
Ablehnung: Die Ablehnung wird zur festen Gewohnheit.
Furcht vor dem Tod: Handeln aus Angst führt zu unschönen Effekten.
In Vers 2.2 hat Patanjali bereits gesagt, wie wir die Bindungen des Karma auflösen können: indem wir das dreifache Kriyayoga üben, bestehend aus Tapas, Svadhyaya und Ishvara Pranidhana.
2.13. „Wenn die Wurzeln da sind, zeigen sie sich als Status, Lebensspanne und Erfahrungen.“ oder „Solange karmische Wurzeln verbleiben, äußert es sich als verschiedene soziale Situationen, Lebenserwartung und Art der Erfahrungen.“
Im Yoga können wir das Ziel des spirituellen Weges definieren als „die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten“, also die „Erlösung unserer Seele“ (bzw. des Selbst) vom Zwang durch das Karma immer wieder inkarnieren zu müssen. Der Kreislauf der Wiedergeburten wird Samsara genannt, und die Befreiung daraus Moksha. Diese Erlösung geschieht durch das Erkennen des Selbst bzw. das Verwirklichen der Einheit mit Gott. Es gilt verschiedene Aufgaben im Leben zu bewältigen, um zu dieser letztendlichen Befreiung zu kommen, und vor allem gilt es sich von den Bindungen des Karmas zu lösen.
2.14. „Je nachdem, ob die Ursache konstruktiv war oder nicht, ist das Ergebnis erfreulich oder nicht.“ oder „Es wird Vergnügen oder Schmerz als Frucht geerntet, je nachdem, ob der Same tugend oder Laster war.“
Wie oben erläutert ist der Karmabegriff in zwei Richtungen zu verstehen. Zum einen sähen wir in jedem Augenblick neue Samen für zukünftiges Erleben, zum anderen ernten wir in jedem Augenblick die Früchte unserer vergangenen Handlungen.
Yoga Sutra 2.15-17 – Sich vom Leiden lösen
Nachdem Patanjali in den ersten Versen des 2. Kapitels seines Yogasutras über Kriya-Yoga, die Kleshas und das Karma gesprochen hat, führt er nun aus, wie man sich aus dem leidvollen Sein lösen kann.
2.15. „Weise wissen, dass im Leben durch Wandlung, Sehnsucht, Prägung sowie die Wirkkräfte der Natur, die im Widerspruch zu eigenen Wünschen stehen, Leid entsteht.“
Dieser Vers wird oft verkürzt zitiert als „duḥkham sarvaṁ vivekinaḥ“, also „der Weise sieht das Leid in allem“. Zugegebenermaßen klingt dieser Vers zunächst mal sehr pessimistisch, daher ist es wichtig, den Begriff des „dukha“ im rechten Licht zu verstehen. Es ist mit Leiden gemeint, dass das Leben immer ein Auf- und Ab ist, ein ständiges Wechselbad von positiven und negativen Erlebnissen. Dieses, im Gegensatz zur höchsten Freude, die aus dem wahren Selbst heraus besteht, ist eben leidvoll.
2.16. „Zukünftiges Leiden sollte man vermeiden.“ oder „Unmanifestes Leid lässt sich verhindern.“
2.17. „Die Verbindung des wahren Selbst mit dem Veränderbaren ist die Ursache für Karma.“ oder „Die Identifikation des Subjekts mit dem Objekt ist die Leidensursache und soll vermieden werden.“
Yoga Sutra 2.18-20 – Die Wirkkräfte und das wahre Selbst
Nachdem Patanjali in den ersten 17 Versen des Sadhana Pada aus verschiedenen Perspektiven von der Befreiung aus dem Leiden gesprochen hat, beschreibt er nun weiter das Problem, welches dahinter steckt. Es ist Samyoga, die irrtümliche Verbindung des Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen.
Samyoga ist auch ein Begriff, der in der Bhagavad Gita auftaucht. Dort wird in VI.23 gesagt:
„Möge dies den Namen Yoga tragen: Das Aufhören des Einsseins mit dem Schmerz.“
2.18. „Die Natur der Welt, die aus Licht, Bewegung und Stillstand besteht, wird durch die Elemente und Sinnesorgane erfahren, dient dem Zweck der Erfahrung und Befreiung und bildet das Wahrnehmbare.“ oder „Das manifeste Universium, welches aus den Elementen und den Wahrnehmungen der Sinnesorgane besteht, besteht aus Sattwa, Rajas und Tamas und existiert zum Zwecke der Erfahrung und der Befreiung.“
2.19. „Die Wirkkräfte sind kategorisierbar in benennbar, unspezifisch, symbolhaft und jenseits von Symbolen.“ oder „Die Grundeigenschaften der Natur haben jeweils die formbildenden Zustände spezifisch, unspezifisch, benennbar und unbenennbar.“
Um zu verdeutlichen, wie tiefgreifend der Einfluss der Gunas ist, erläutert Patanjali hier nun die Weisen, in denen sie auf verschiedenen Ebenen wirken. Ein gutes Verständnis des Konzeptes der Gunas kann dem Yogi sehr hilfreich sein, um seine Erfahrungen auf dem Weg zu interpretieren. Bei den Gunas handelt es sich neben Purusha/Prakriti um ein weiteres Kernkonzept des Samkhya, welches von verschiedensten anderen Philosophien übernommen wurde, weil es sehr klar die Eigenschaften der Natur im Verhältnis zum Selbst beschreibt.
Da Patanjali zuvor (außer in 2.15) noch nicht die Gunas eingeführt hat, hier eine genauere Beschreibung:
Tamas: steht für Trägheit, Dunkelheit und Dumpfheit und ist die Wirkkraft, welche uns wie eine Wolke verblendet und von der Erkennntis der Wirklichkeit fernhält.
Rajas: steht für Rastlosigkeit, Bewegung und Tatkraft und ist die Wirkkraft, welche uns durch Unruhe und Projektion von der höchsten Erkenntnis entfernt.
Sattwa: steht für Klarheit, Reinheit und Harmonie und ist die Wirkkraft, welche uns durch die Neutralität zur Erkenntnis des Selbst führen kann.
Alles besteht laut dem Samkhya-Weltbild letztlich aus einer einzigen Substanz, die wiederum aus diesen 3 Kräften besteht. Also vom Felsblock bis zum Gedanken ist alles Teil von dem Wahrgenommenen (dṛśyam) und wird bestimmt durch die Gunas.
Diese Kräfte können sich nun laut Patanjali auf verschiedene Weisen zeigen.
Spezifisch: grob, also von jedem wahrnehmbar
Unspezifisch: Subtil, also nur von feingeistigen Menschen wahrnehmbar
Symbolhaft: manifest, nur angedeutet – laut Vivekananda der Intellekt, Buddhi
Unbenennbar: Unmanifest, nicht zu bezeichnen – die unbenennbare Quelle der Gunas
2.20. „Der Wahrnehmende nimmt zwar das zu Sehende vollständig wahr, es wird aber durch die Wahrnehmungsorgane verfärbt.“ oder „Der Sehende ist reines, unveränderliches Bewußtsein und nimmt durch den Filter des Geistes wahr.“
Yoga Sutra 2.21-24 – Über das Wandelbare und die Identifikation
2.21. „Der einzige Grund für die Existenz physischer Objekte ist es, vom Selbst wahrgenommen zu werden.“ oder „Prakriti gibt es nur für Purusha“
In den vergangenen Versen ging es schon viel um das Modell von Prakriti und Purusha aus der Samkhya Sichtweise. Hier wird nun klar gesagt, dass unser ganzes Universum, also alles, was man wahrnehmen kann, nur dazu da ist, vom Selbst erfahren zu werden.
2.22. „Hat das Wahrgenommene seinen Zweck erfüllt, verschwindet es nur für den Erkennenden, es bleibt für andere bestehen, da es für alle gültig ist.“ oder „Ist der Zweck erreicht, wird es für den Sehenden überflüssig, ohne zu verschwinden, da es auch für andere noch einen Zweck zu erfüllen hat.“
2.23. „Die irrtümliche Vereinigung (von Prakriti und Purusha = Samyoga) dient dazu, den inneren Meister und die innewohnende Kraft zu erfahren.“
Da das ausgewiesene Ziel des Yoga „die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten“ ist, bzw. „das sich lösen von den Fesseln der Prakriti“, in die wir durch Samyoga geraten sind, kann man mitunter zu einer Ansicht kommen, welche Prakriti verneint und ablehnt. Und tatsächlich gibt es viele weltfremde Yogis, die sich nur dem Licht zuwenden, nicht genießen können und darüber vergessen, wie schön die Prakriti ist.
Samyoga lässt uns zwar einerseits leiden, verschafft uns aber auch viel Freude. Schaffen wir es, die Prakriti zu erfahren und zu genießen, ohne an ihr zu haften, sind wir auf einem guten Weg. Patanjali sagt also hier, dass wir durch die Verbindung mit der Welt tiefe Einsichten über den inneren Meister und die innewohnenden Kräfte bekommen können. Raja Yoga ist also ein klares „Sich hinwenden“ an die Welt, um ihr zugleich innerlich zu entsagen, aber keine Negierung wie im Vedanta.
2.24. „Die Ursache ist Verwechslung“ oder „Der Grund (für die irrtümliche Vereinigung) ist die Unwissenheit.“
Unsere wahre Natur ist also der Purusha, aus dem heraus sich Prakriti gebildet hat. Durch Samyoga verbinden oder identifizieren wir uns mit Prakriti und leiden darunter. Um nicht mehr zu leiden, müssen wir Samyoga auflösen, und dazu müssen wir ergründen, wie es entsteht. Patanjali sagt hier ganz knapp, was er auch schon in Vers 2.5 genauestens erläutert hat: Unwissenheit ist die Ursache für die irrtümliche Verbindung und damit von allem Leid. Der Mensch vergisst seine göttliche Natur und sucht daher sein Glück innerhalb der Prakriti. Er bleibt so lange mit ihr verbunden, also auch über viele Leben, bis der Wunsch nach Befreiung erwacht und er durch Loslösung zur Erkenntnis kommt.
Yoga Sutra 2.25-26 – Unterscheidungskraft befreit von Unwissenheit
Die zuletzt kommentierten Verse im Sadhana Pada des Patanjali-Yogasutras waren hoch komplex und sind nur sehr schwer zu erfassen. Nun aber vermittelt Patanjali in einfachen Worten die Lösung zu unserem Dilemma. Letztlich geht es um Verstehen und Einsehen. Aus dieser Erkenntnis heraus gilt es zu agieren und ununterbrochen zu unterscheiden. Durch dieses einsichtige Handeln, ohne sich abermals zu verstricken, lösen wir die Unwissenheit auf und befreien uns vom leidvollen Sein.
2.25. „Wenn Unwissenheit schwindet, löst sich die Verbindung, dann ist das Selbst befreit.“ oder „Durch Erkenntnis löst sich die Identifikation (von Purusha mit Prakriti) und der Sehende ist befreit.“
2.26. „Ununterbrochene Unterscheidungskraft ist das Mittel zur Befreiung.“ oder „Um es zu lösen, ist pausenloses Differenzieren nötig.“
Genau wie in der vedantischen Sadhana Chatustaya, den Bedingungen zur Befreiung, ist auch im Raja Yoga des Patanjali die Unterscheidungskraft das entscheidende Mittel. Im Vedanta wird zwischen vier wesentlichen Differenzierungen unterschieden:
Satasat Viveka: Was ist wahr und wirklich, was ist unwahr und unwirklich
Atmanaatman Viveka: Was ist das Selbst und was nicht
Nityaanitya Viveka: Was ist ewig und was vergänglich
Sukhaananda Viveka: Was ist Freude aus Objekten und was ist wunschlose Freude
Im Raja Yoga geht es um die Unterscheidung zwischen Purusha und Prakriti, was letztlich auf das Selbe hinausläuft, jedoch philosophisch einen anderen Hintergrund hat. Raja Yoga und auch Samkhya haben eine dualistische Sicht, d.h. es wird klar getrennt zwischen Subjekt und Objekt, also Purusha und Prakriti, wohingegen im Vedanta die Trennung nur ein Werkzeug ist, da alles immer eins ist.
Yoga Sutra 2.27-29 – Einleitung zum Ashtanga – 8 Glieder des Yoga
Heute gilt dieser Teil, in dem das Ashtanga oder die acht Glieder des Raja Yoga besprochen werden, für viele als der wichtigste Teil des Yoga Sutra und wird sogar häufig auf dieses Modell reduziert. In den folgenden drei Versen wird das Thema zunächst eingeleitet und dann schrittweise genau beschrieben.
2.27. „Der Weg zum erkennenden Bewusstsein geht über sieben Stadien.“ oder „Dieser Pfad zur Erkenntnis hat sieben Stufen.“
7 Glieder durch die man das Achte erlangt.
2.28. „Übung der Yogaglieder führt zur Überwindung von Unreinheiten, strahlender Weisheit und fortwährender Unterscheidungskraft.“ oder „Durch das Ausüben der Glieder des Yoga werden Schlacken geklärt und es leuchtet das Wissen der stetigen Unterscheidung.“
Überwindung von Unreinheiten: Die Reinigung der verschiedenen Ebenen unseres Körper-Geist Systems ist deutlich spürbarer und essentieller Teil des ganzen Yogasystems. Da wir davon ausgehen, als höchstes Ziel unseren natürlichen Zustand zu erreichen, müssen wir nur Unreinheiten klären.
Strahlende Weisheit: Das Erlangen der inneren Weisheit geschieht durch das Üben des ganzheitlichen Yoga nebenbei. Das ganze Leben und der komplette Alltag werden von Grund auf harmonisch zurechtgerückt und tiefe Erkenntnisse kommen und gehen.
Fortwährende Unterscheidungskraft: Nach und nach erwacht das stetige Handeln mit dem Bewusstsein der Wahrheit oder die unbegrenzte Unterscheidung, die jenseits des Intellekts liegt und mühelos all unser Sein transformiert.
Hier können wir also sehr gut an uns selbst feststellen, wo wir auf dem Yogaweg sind. Wichtig ist eben nur, dass wir die einzelnen Glieder des Yoga im rechten Sinne verstehen und umsetzen.
2.29. „Achtung gegenüber deinen Mitmenschen und gegenüber dir selbst, Körperbeherrschung, Kontrolle der Lebensenergie, Sinnesbeherrschung, Konzentration, Meditation und Ekstase, sind die acht Glieder.“ oder „Gutes Miteinander, eigene Beschränkungen, Körperstellungen, Atembeherrschung, Sinnesrückzug, Konzentration, tiefe Versenkung und höhere Bewusstseinszustände bilden die acht Teile des Yoga.“
Hier die acht Punkte mit kurzer Beschreibung:
Yamas (das Verhältnis zur Umwelt): Der Umgang mit unseren Mitmenschen hat einen hohen Stellenwert im Yoga.
Niyamas (das Verhältnis zu sich selbst): Die Weise, wie wir mit uns selbst umgehen, ist ausschlaggebend für unsere Entwicklung.
Asana (die Körperhaltung): Vorraussetzung für das tiefe Nach innen Gehen ist die stabile und bequeme Haltung.
Pranayama (die Energiekontrolle): Über den Atem hat man Zugang zur Lebensenergie und kann beides beruhigen.
Pratyahara (das Zurückziehen der Sinne): Die Aufmerksamkeit geht ganz nach innen und die Sinneswahrnehmungen gehen mit.
Dharana (die Konzentration): Schrittweise lernen wir, den Geist auf einen Punkt auszurichten.
Dhyana (die Meditation/Verbindung): Die Versenkung in den Fluss der Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt.
Samadhi (die Verschmelzung): Die Überwindung des Alltagsbewusstseins hinein in eine neue Dimension des Seins.
Yoga Sutra 2.30-34 – Hinführung zu den Yamas und Niyamas
Die Essenz des Raja Yoga bzw. des Yoga Sutra ist sicher das Modell der 8 Stufen oder Glieder, die nun im Folgenden genau erläutert werden. Von diesem Modell, welches Ashtanga genannt wird, sind wohl die ersten beiden Punkte zunächst am wichtigsten: die Yamas und Niyamas (= die Ethik des Yoga).
Diese 10 Punkte sollen dem Yogi helfen, klar, ruhig, entspannt, gutmütig usw. zu werden, um damit dem expandierenden Bewusstsein gerecht zu werden. Mit den weiteren Praktiken werden geistige Kräfte geweckt und ungeahnte Bereiche des Seins betreten, für die es eben eine entsprechende Basis geben sollte.
2.30. „Nicht verletzen, Wahrhaftigkeit, nicht stehlen, Entsagung und Unbestechlichkeit sind die Enthaltungen.“ oder „Gewaltlosigkeit, Ehrlichkeit, kein Diebstahl, das Göttliche in allem sehen und nichts begehren sind die Grundlagen des ethischen Miteinanders.“
Die Yamas sind im Einzelnen:
Gewaltlosigkeit (Ahiṁsā): Gewaltlosigkeit gegenüber sich selbst und allen Wesen
Ehrlichkeit (Satya): wahrhaftig sein in Gedanken, Wort und Tat
Nicht stehlen (Asteya): Nicht stehlen und unabhängig sein
Das Göttliche in allem sehen (Brahmacarya): Leben im Bewusstsein der Göttlichen Natur hinter allem und jedem
Nichts begehren (Aparigrahā): Anspruchslosigkeit
Wir finden tatsächlich genau diese Punkte auch in den 10 Geboten wieder.
2.31. „Egal welche soziale Schicht, Ort, Zeit und Situation, in allen Bereichen gilt es, diese Achtung gegenüber den Mitmenschen einzuhalten, das ist eine grundlegende Pflicht.“ oder „Diese wichtigen Regeln gelten unabhängig von Status, Platz, Zeitpunkt und Situation.“
Patanjali nennt hier einige Punkte, die nicht als Ausrede gelten sollten, um diese Qualitäten nicht zu leben:
Soziale Schicht: Egal ob wir Busfahrer, Regierungschef oder Polizist sind, ob wir reich oder arm sind, ob wir Chef, Angestellter oder Arbeiter sind, die Regeln gelten für jeden.
Ort: Unabhängig davon, ob wir im Fußballstadion, in einer Gehaltsverhandlung oder beim Einkaufen sind, die Empfehlungen sollten immer Maßstab unseres Handelns sein.
Zeit: Ob wir nachts geweckt werden, von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommen oder ob wir gerade im Lotto gewonnen haben, immer sind uns die Punkte Handlungsorientierung.
Situation: Wie auch immer die Situation ist, also wenn wir angegriffen werden, wenn wir verärgert sind oder wenn wir jemandem die Meinung sagen müssen, nichts gilt als Grund, die Regeln außer Acht zu lassen.
2.32. „Reinheit, Zufriedenheit, Selbstdisziplin, Selbststudium und Gottvertrauen ist die Achtung vor sich selbst.“ oder „Klarheit, Genügsamkeit, Askese, Reflexion und Hingabe sind die Regeln im Umgang mit sich.“
Die Niyamas sind im Einzelnen:
Reinheit (Sauca): die Reinheit im Innen und Außen, die es zu pflegen gilt.
Zufriedenheit (Saṁtoṣa): die Zufriedenheit mit dem, was man hat, die es zu erwecken gilt
Selbstdisziplin (Tapas): die innere Disziplin mit der spirituellen Praxis, die es zu stärken gilt
Selbststudium (Svādhyāya): die Reflexion und Selbstbetrachtung, die zu beachten ist.
Gottvertrauen (Ishvara Pranidhana): Das Vertrauen und die Hingabe gegenüber einer höheren Macht
2.33. „Bei Zweifel und Peinigung (gegenüber den Yamas und Niyamas) ist das Gegenteil zu fördern.“ oder „Wenn negative oder schädliche Gedanken den Geist stören, kann wissende Unterscheidung helfen.“
Bei diesem Vers geht es also ganz konkret um die Inhalte unseres Geistes und wie wir damit umgehen können, wenn wir negative Selbstgespräche und schlechte Gefühle erleben. Hierzu ist zunächst entscheidend, in ein klares Bewusstsein des beobachtenden Gewahrseins zu kommen, sich also innerlich von den Erfahrungen zu lösen, und das Zeugenbewusstsein zu kultivieren. Dann können die schädlichen oder negativen Gefühle und Gedanken nach und nach aufgelöst werden, durch das Kultivieren des Gegenteils bzw. durch das Reflektieren und Beleuchten der verschiedenen Seiten. Patanjali nennt ein ebenso raffiniertes wie einfaches psychologisches Mittel, um mit geistigen Schwierigkeiten umzugehen: Man macht sich einfach des Gegenteils bewusst, und im Lichte dessen kann man dann die Situation aus der Metaebene betrachten.
2.34. „Schlechte Gedanken und Gewalt, ob selbst verübt, beauftragt oder geduldet, ob durch Gier, Ärger oder Täuschung entstanden und ob mild, mittelmäßig oder in starker Intensität gegenwärtig, resultieren in endlosem Leid und Unwissenheit. Deshalb muss die Gegenposition kultiviert werden.“
Er nennt 9 Punkte in 3 Kategorien, die allesamt in unseren unmittelbaren Wirkungsbereich fallen und klar unser Karma beeinflussen:
Egal ob wir etwas nur geduldet haben, ob wir es in Auftrag gaben oder ob wir es selbst getan haben: Wir sind dafür verantwortlich. Ein gutes Beispiel ist hier Fleischkonsum.
Unabhängig davon, ob wir aus Verlangen, aus Wut oder auch aus Verblendung eine schlechte (gewaltvolle) Tat vollbracht, geduldet oder beauftragt haben: Wir haben die Konsequenzen zu tragen. Das Gesetz des Karma ist gerecht und unerbitterlich.
Es spielt keine Rolle, ob wir wenig, mittelmäßig oder sehr intensiv Gewalt ausüben bzw. nicht aus den Yamas und Niyamas heraus handeln: Es wird unser Karma beeinflussen.
Yoga Sutra 2.35-39 – Yamas - Die Enthaltungen
2.35. „Im Umfeld eines beständig Gewaltlosen verschwinden Feindseeligkeiten.“ oder „Wenn man im Nichtverletzen begründet ist, wird auch die Umgebung friedlich.“
2.36. „Ist die Begründung in der Wahrhaftigkeit stabil, besteht eine Verbindung zwischen ursächlicher Handlung und der erfahrenen Wirkung.“ oder „Ist man stabil in der Wahrheit, wird jede Aussage die Wirklichkeit kreieren.“
2.37. „Ist der Geist von Nichtstehlen stabil, wird aller Reichtum da sein.“ oder „Wer nicht klaut, bekommt alles.“
2.38. „Handlung im Bewusstsein des Absoluten, bringt Lebenskraft.“ oder „Wenn die sexuelle Kraft kontrolliert ist, wird kraftvolle Vitalität erlangt.“
Der Begriff Brahmacharya wird sehr unterschiedlich gedeutet. Zunächst mal ist die wörtliche Bedeutung einfach „jemand, der sich der Natur Gottes immer bewusst ist“, der also „im Gewahrsein der Göttlichen Omnipräsenz wandelt“. Allerdings ist das Wort Brahmacharya auch ein stehender Begriff für die sexuelle Enthaltsamkeit bzw. für die Kontrolle der sexuellen Kraft.
2.39. „Ist Bedürfnislosigkeit beständig, entsteht Wissen über den Sinn der Inkarnation.“ oder „Mit der Stabilität in Anspruchslosigkeit erlangt man Wissen über das Leben.“
Dieses ist auch wieder ein interessanter Vers. Er beschreibt die Ergebnisse einer inneren Einstellung zur materiellen Welt: nämlich ein Verständnis der Zusammenhänge unseres Erdenlebens. Wobei wir das Wort Aparigraha sehr verschieden übersetzen können, und es ist wichtig, diese Verse im rechten Geiste zu verstehen.
Daher hier eine kleine Auswahl an möglichen Übersetzungen:
Sukadev: Nicht Besitzgier
Rafael: Nicht besitzergreifen
Sri Ram: Anspruchslosigkeit
Iyengar: Freiheit von Besitzgier
Swami Vivekananda: Nicht annehmen
Swami Jnaneshwara: Nicht gewinnsüchtig
Swami Sivananda: Nicht-akzeptieren von Geschenken
Yoga Sutra 2.40-45 – Niyamas – Empfehlungen für das eigene Leben
Maharishi Patanjali hat im letzten Abschnitt des Yogasutras die Empfehlungen für den Umgang mit den Mitwesen genauer beschrieben. In diesem Abschnitt geht es um 5 Eigenschaften, um mit uns selbst besser zurechtzukommen.
2.40. „Reinheit führt zu Abstand gegenüber dem eigenen Körper und dem Kontakt mit anderen.“ oder „Durch die Reinheit lehnt man den eigenen Körper ab und meidet Berührungen mit anderen.“
2.41. „Dadurch kommen Klarheit, Heiterkeit, Einpünktigkeit, Beherrschung der Sinne und die Fähigkeit zur Erkenntnis des Selbst.“ oder „Ist der Körper gereinigt, das Gemüt heiter, der Geist einpünktig und die Sinne kontrolliert, wird auch die Eignung zur Selbstverwirklichung erreicht.“
Es werden hier einige Punkte aufgezählt, die durch das Erreichen oder Anstreben der Reinheit kommen:
Klarheit: Der Zustand des reinen Sattwa, des subtilen und klaren Gunas.
Heiterkeit: das mühelose positive Denken, das Verweilen im heiteren Gemüt.
Einpünktigkeit: Die einpünktige Ausrichtung der Strahlen der Aufmerksamkeit auf ein Objekt.
Beherrschung der Sinne: Die Beherrschung der Sinne oder der Sieg über die Sinne.
Fähigkeit zur Erkenntnis des Selbst: Das Erkennen des Selbst bzw. „yogyatvāni“ – die Fähigkeit dazu.
Diese Eigenschaften werden ganz von alleine erreicht durch die Kultivierung von Reinheit.
2.42. „Durch Zufriedenheit gewinnt man unvergleichbares Glück.“ oder „Mit Genügsamkeit findet man größtes Wohlbefinden.“
Zufriedenheit ist eine entscheidende Eigenschaft auf dem spirituellen Weg. Findet der Geist nicht in der Zufriedenheit eine Ruhestätte, wird er bis in alle Ewigkeit ziellos umher irren. Es braucht Zufriedenheit, um zur inneren Ruhe zu kommen und sich ganz auf die Transformation einzulassen. Wir müssen die unaufhörliche Kette von Wünschen im Geiste durchbrechen, indem wir Zufriedenheit kultivieren.
2.43. „Durch Selbstdisziplin wird Unreinheit aufgelöst und man erlangt Kräfte über Körper und Sinne.“ oder „Durch Askese lösen sich Schlacken auf, der Körper und die Sinnesorgane werden kraftvoll.“
Tapas oder Tapasya gehört, wie auch die nächsten beiden Punkte, auch zum Kriya Yoga des Patanjali, welche bereits am Beginn des 2. Kapitels erwähnt und kommentiert wurden.
2.44. „Das Lernen über sich selbst bringt die ersehnte Verbindung zum Lieblingsaspekt Gottes.“ oder „Durch Studium des Selbst entsteht Vereinigung mit dem persönlichen Ideal.“
Ein weiterer wichtiger Punkt bei Patanjalis Niyamas ist Svadhyaya, das Selbststudium oder die Reflexion über das eigene Verhalten.
2.45. „Durch Hingabe an Gott entstehen Selbsterkenntnis und Kräfte.“ oder „Durch Gottesverehrung entsteht die Kraft, Samadhi zu erreichen.“
Patanjali betont hier die Wichtigkeit der Hingabe an Gott, um auf dem spirituellen Weg weiter zu kommen.
Yoga Sutra 2.46-48 – Körperhaltung (Sthira Sukham Asanam)
Der Vers 2.46 mit dem tiefsinnigen Satz „Sthira Sukham Asanam“ ist sicher einer der bekanntesten im ganzen Yoga Sutra. In diesem Abschnitt geht es um den wichtigen Punkt der Körperbeherrschung und die innere Ausrichtung in der Sitzhaltung zur Meditation, der Asana. In der modernen Welt wird das Yoga meistens auf die Ebene der Körperübungen reduziert. Im Yogasutra, dem wichtigsten Quelltext des Yoga, ist jedoch nur in 3 von 196 Versen im engeren Sinne die Rede von Asanas, also Körperhaltungen. Mit dem Wort Asana ist im Yogasutra immer die Meditationshaltung gemeint, das wird im Zusammenhang deutlich.
2.46. „Die Körperhaltung sollte stabil und angenehm sein.“ oder „Der Sitz ist fest und leicht.“
Offenbar ging es Patanjali in diesen Versen darum, die richtige Haltung für die Meditation zu beschreiben, und nicht um eine Anleitung für die vielen Asanas im Hatha Yoga. Jedoch geben uns diese Verse, insbesondere „Sthira Sukham Asanam“ eine ganz konkrete Anweisung auch für die Übung der vielen Stellungen des körperorientierten Yoga. Die weiteren Verse machen klar, dass es um die ideale Sitzweise für die Meditation geht, denn tatsächlich ist es für ein Gelingen der Meditationspraxis entscheidend, den Körper loslassen zu können, ihn also quasi zu meistern. Wenn wir auf dem Weg des Raja Yoga und der Meditation weiterkommen wollen, müssen wir eine entsprechende Sitzhaltung trainieren, die den beiden genannten Punkten entspricht:
Stabil: Es braucht für uns viel Übung, um eine Weise zu finden, in der Meditation ganz unbewegt und stabil zu sitzen. Wir neigen dazu, einzusinken in der Haltung, und uns immer wieder zu bewegen. Wollen wir tief nach innen gehen, müssen wir aber ganz regungslos werden. Dazu müssen wir eine entsprechende Muskulatur entwickeln, das braucht Zeit und Übung.
Angenehm: Um in der festen und regungslosen Haltung für längere Zeit zu verweilen und sich ganz auf den Prozess der Meditation einzulassen, ist es sehr wichtig, dass man sich angenehm in seinem Körper bzw. in seiner Haltung fühlt. Nur wenn sich der Körper gut anfühlt, können wir ihn loslassen und uns ganz auf die innere Transformation einlassen.
2.47. „Das Eingehen in die Unendlichkeit wird durch Loslassen und Sammeln erreicht.“ oder „Zum Meistern einer Stellung braucht es das Lösen der Spannung und die Meditation auf das Endlose.“
Um sthira-sukham-āsanam („Die Körperhaltung sollte stabil und angenehm sein“) immer mehr zu kultivieren und damit die Sitzhaltung zu meistern, sollten wir zugleich die Spannungen lösen und uns auf das Unendliche ausrichten. Es macht also gar keinen Sinn zu versuchen, eine Sitzhaltung mit aller Gewalt zu beherrschen, sondern Patanjali empfiehlt, locker und gelöst zu bleiben, um zur Meisterschaft über eine Körperhaltung zu kommen.
2.48. „Dadurch überwindet man die Polaritäten.“ oder „Daraus entsteht die Unberührtheit durch die Dualität der physischen Welt.“
Wenn durch das Loslassen der Spannungen und das Meditieren auf die Unendlichkeit das bequeme und regungslose Verweilen in einer Asana erreicht wird, kommt man zu der Meisterschaft über eine Asana.
Yoga Sutra 2.49-53 – Pranayama – die 4. Stufe des Ashtanga
2.49. „Dann kommt die Beherrschung der Lebensenergie über Einatmung, Ausatmung und den Zwischenraum.“ oder „Im Anschluss dann das Beruhigen der Bewegung von Aus- und Einatmung sowie der Atempause.“
Patanjali sagt klar, dass die Körperhaltung zuerst beruhigt werden muss, bevor der Atem unter Kontrolle gebracht werden kann. Es ist das erste Mal, dass hier von einer Art Stufe gesprochen wird, also zunächst muss die Sitzhaltung „Asana“ gemeistert sein, bevor man den Atem kontrollieren kann. Es geht bei dem Begriff „Pranayama“ im Sinne Patanjalis letztlich um die Beherrschung der subtilen Kraft hinter dem Atem, bzw. um die Energie, die uns atmen lässt. Im Yoga wird dies „Prana“ genannt.
Der Begriff Pranayama meint zum einen zwar die Atemübungen des Hatha-Yoga, jedoch geht es Patanjali hier um eine Meditationsanleitung über die Kontrolle des Atems. Der Atem gilt im Yoga als die Verbindung zwischen Körper und Geist, er ist die grobstoffliche Manifestation des Prana. Über den Atem kann man also das Prana regulieren, was wiederum Auswirkungen auf den Geist hat. Man sagt, es geht vor allem um das Kontrollieren des Ausatmens und das Ausdehnen der Atempausen.
2.50. „Einatmung, Ausatmung sowie Atemhalten wird verlängert und verfeinert durch Kontrolle von Intensität, Dauer und Häufigkeit.“
Die Zielsetzung des Yoga nach Patanjali ist, wie im Vers 2 des 1. Kapitels gesagt, das „zur Ruhe bringen der Gedankenwellen im Geiste“. Um dieses zu erreichen empfiehlt er also als 4. Schritt bzw. 4. Glied seiner Anleitung das Pranayama, wobei er hier sagt: Es geht konkret um das Verlängern und Verfeinern der 3 Atemphasen durch die Kontrolle der 3 genannten Faktoren.
2.51. „Das Vierte transzendiert Innen und Aussen.“ oder „Die vierte Methode transzendiert Anhalten, Aus- und Einatmen.“
Neben den Übungen, die sich mit den 3 Phasen der Atmung (Einatmung, Ausatmung sowie Atem halten) befassen, gibt es laut Patanjali noch eine 4. Weise der Praxis, durch die das Prana beherrscht werden kann. Hierbei spielt das Atmen an sich keine Rolle mehr, da es ganz von alleine geschieht und harmonisch ist. Dieses wird Kevala Kumbhaka genannt, der „meditative Atem“, bei dem man das Gefühl hat, kaum noch zu atmen bzw. dass kaum Luftaustausch geschieht. Es kommt sogar vor, dass der Atem sogar ganz aussetzt, was als höchste Form des Pranayama gilt und ganz natürlich („Kevala“) geschieht. Um diesen Zustand zu erreichen, reicht es nicht aus, Atemübungen zu machen, sondern Asana und die Yamas und Niyamas bilden das konkrete Fundament, um den Atem so weit zur Ruhe zu bringen.
2.52. „Dadurch wird der Schleier vom Licht des wahren Selbst gelöst.“ oder „Dies zerstört die Verhüllung des Lichtes.“
Durch den Zustand von „Kevala Kumbhaka“, dem zur Ruhe kommen des Atems, was Patanjali als die vierte Methode bezeichnet, lösen sich die bewusstseinsverhüllenden Schleier ganz von selbst.
2.53. „Und der Geist wird auf Ausrichtung vorbereitet.“ oder „Und die Gedanken sammeln sich auf eines.“
Je mehr der Atem zur Ruhe kommt, desto klarer wird der Geist, und entsprechend wird unsere Fähigkeit gesteigert, den Geist zu konzentrieren. Wenn der Atem und das Prana unruhig sind und somit auch der Geist voller Regungen, wird es unmöglich, den Geist innerlich auszurichten. Daher empfiehlt Patanjali ein schrittweises Vorgehen auf dem Yogaweg. Bevor wir nicht eine gewisse Ruhe haben, wird es sehr schwierig zu meditieren.
Yoga Sutra 2.54-55 – Pratyahara - Die Sinne umkehren
Pratyahara wird verglichen mit einer Schildkröte, die ihre 5 Glieder nach innen zieht. Es geht darum, den Geist von der Anziehungskraft der Sinnesobjekte zu lösen.
2.54. „Pratyahara führt zum natürlichen Zustand und ist durch das Zurückziehen der Sinne von ihren Objekten erreicht.“ oder „Wenn man die Sinne vom Erfahrbaren abzieht, und die wahre Natur im Geiste durchscheint, wird es Pratyahara genannt.“
Pratyahara ist ein sehr wichtiges und oftmals unterschätztes Element des Yoga. Es stellt das Bindeglied zwischen den äußeren und den inneren Praktiken des Yoga dar. Die ersten 4 Glieder des Ashtanga sind konkrete Methoden, die ein physisches Handeln enthalten, die letzten 3 sind innere Ausrichtungen. Pratyahara verbindet die beiden Ebenen der Praxis, wobei es darum geht, den Geist von außen nach innen zu richten. Die Interpretationen von Pratyahara sind verschieden. Manche sagen, es geschieht von selbst, also als Resultat von Pranayama. Andere behaupten, es soll willentlich geschehen, also durch das Richten der Aufmerksamkeit nach innen.
2.55. „Daraus entsteht die absolute Kontrolle über die Sinnesorgane.“ oder „Daraus kommt die Meisterschaft über die Sinne.“
Mit den Sinnen nehmen wir die Welt auf verschiedenen Ebenen wahr. Wir können Sinneserfahrungen genießen und daraus lernen. Allerdings verlieren wir uns allzuoft in unserem Wunsch, die Sinne zu befrieden, und vergessen darüber, dass wahre Freude dem einfachen Sein entspringt. Pratyahara ist die Praxis, den Sinneserfahrungen nicht mehr so viel Wert zu geben und die Eindrücke als gleichwertig zu betrachten bzw. sie neutral wahrzunehmen. Hierbei geht es nicht darum, das Leben nicht zu genießen, sondern einfach zu akzeptieren, was gerade gegeben ist, ohne ständig nach etwas anderem zu streben.
Übersetzung und Kommentare von Narada: www.vedanta-yoga.de