Inhaltsverzeichniss
1.1 – 4 Was ist Yoga?
1.5 – 11 Arten der Bewegungen des Geistes (Vrittis)
1.12 – 16 Anstrengung und Losgelöstheit (Abhyasa und Vairagya)
1.17 – 18 Zwei Arten von Überbewusstsein (Samadhi)
1.19 – 22 Arten von Yogis
1.23 – 26 Die Hingabe an das Göttliche
1.27 – 29 Der Urklang OM
1.30 – 32 Hindernisse auf dem Weg und die Überwindung
1.33 Einstellung gegenüber anderen
1.34 – 39 Methoden zur einpünktigen Ausrichtung
1.40 – 41 Geistige Macht und Klarheit
1.42 – 46 Überbewusstsein in Verbindung mit Objekten
1.47 – 51 Überbewusstsein jenseits der Prägungen
Yoga Sutra 1.1-4 – Was ist Yoga?
Diese vier Verse gelten als Zusammenfassung der 196 Verse und sind sicher die berühmtesten Verse aus dem Yogasutra des Patanjali. Sie geben eine erste Antwort auf die Frage „Was ist Yoga?“
1.1. „Jetzt wird die Erfahrung der Einheit (Yoga) erklärt.“ oder „Einssein erklärt sich im Jetzt.“ oder „Yoga (das 'sich vereinigen') findet im Jetzt statt.“1.4. „Sonst verzerren Gedanken die Wahrnehmung.“ oder „In anderen Zuständen ist der Geist mit seinen Bewegungen identifiziert.“
Yoga Sutra 1.5-11 – Arten der Bewegungen des Geistes (Vrittis)
Im 2. Teil des ersten Kapitels „Samadhi Pada“ des Yogasutra erläutert Patanjali die 5 Arten von Geisteswellen, die als Vrittis bezeichnet werden. Er differenziert hier zwischen 5 verschiedenen Bewegungen des Geistes. Diese zu kennen hilft, sie zu beruhigen. Vrittis sind Verzerrungen, Filter bzw. Schleier, die einem die Sicht auf die Wahrheit verdecken. Vrittis verursachen Karma (=Handlungen), und Karma bindet das Wesen dann an die materielle Existenz. Man muss so lange immer wieder reinkarnieren, bis das Karma ausgeglichen ist. Dieses wiederholte Reinkarnieren aufgrund von Karma bezeichnet man als ‘Samsara’
1.5. „Die fünf Arten der geistigen Bewegungen können leidvoll sein oder nicht.“
1.6. „Korrektes Wissen, inkorrektes Wissen, Vorstellung, Tiefschlaf, Erinnerung“
Hier nennt Patanjali also die 5 Arten von Gedankenbewegungen. Wenn wir zwischen den Arten der Bewegungen des Geistes lernen zu unterscheiden, werden wir ihnen die Macht entziehen, die sie durch die Vernebelung des Geistes über uns haben. In den folgenden Versen werden die 5 Vrittis noch im Detail besprochen.
1.7. „Wissen basiert auf dem, was vor den Sinnen erscheint, was aus dem Denken entsteht und aus erzähltem.“ oder „Direkte Wahrnehmung (=Wahrnehmung mit den Sinnen), eigene Folgerung und kompetente Zeugenaussagen (=auch das Wissen aus den Schriften) führen zu korrektem Wissen.“
Hier nennt Patanjali die drei Arten, die uns zu korrektem Wissen führen können. Wobei direkte Wahrnehmung nicht mit der Wahrheit zu verwechseln ist! Zum Beispiel sagt unsere Beobachtung, die Welt sei eine Scheibe, sofern wir die Erde noch nicht von oben gesehen haben. Aus der Beobachtung des Himmels und den Bewegungen der Himmelskörper können wir aber schlussfolgern, dass die Welt eine Kugelform hat. Unsere Schlussfolgerungen können aber auch falsch sein oder von der herrschenden Wahrheit abweichen. Auch korrektes Wissen gilt es schlussendlich loszulassen.
1.8. „Inkorrektes Wissen verwechselt etwas mit etwas anderem“1.10. „Der träge Geisteszustand ohne Bewegungen im Geiste, wird Schlaf genannt.“ oder „Tiefschlaf ist die Abwesenheit aller Eindrücke, basierend auf einer Trübung.“
1.11. „Erinnerung entsteht aus vergangenen Erfahrungen, wenn sie noch nicht verblasst sind.“ oder „Dem Objekt der Empfindung nicht völlig beraubt zu sein ist Erinnerung.“
Unser Unterbewusstsein, bzw. das, was im Antahkarana-Modell (=ein Modell, das die 4 Teile des Geistes beschreibt) als Chitta bezeichnet wird, sendet quasi ununterbrochen Impulse an den bewussten Geist. Es ist die Aufgabe des Unterbewusstseins, Erinnerungen und Assoziationen zum Gegenwärtigen zu haben. Die Erinnerungen sind wie ein ständig ablaufender Film von Assoziationsketten und bunten Bildern aus dem Vergangenen. Der Geist neigt dazu, sich in diesen Vrittis zu verlieren. Natürlich sind diese Erinnerungen und Erfahrungen wichtig für ein gutes Funktionieren in der Welt, jedoch gilt es auch hier, das Beobachten zu lernen.
Yoga Sutra 1.12-16 – Anstrengung und Losgelöstheit (Abhyasa und Vairagya)
Die beiden Pole des spirituellen Weges sollten integriert werden in die Praxis, um den Geist zu beherrschen bzw. die Bewegungen des Geistes zu beobachten.
1.12. „In der Balance aus Anstrengung und Gelassenheit wird der Geist beherrscht.“ oder „Die Kontrolle der Gedanken im Geist, wird durch Übung und Losgelöstheit erreicht.“
Hier gibt Patanjali die konkrete Anweisung, wie man lernen kann, den unsteten Geist zu beherrschen. Nachdem er erläutert hat, was Yoga ist und was die unterschiedlichen Geistesbewegungen sind, wird er an dieser Stelle sehr konkret. Das gleiche Modell beschreibt auch Krishna in der Bhagavad Gita: Nachdem Arjuna sagte, der Geist ist so schwer zu beherrschen, wie der Wind mit den Händen aufzuhalten ist, nennt er genau diese Anweisung zur Geisteskontrolle:
Krishna sprach: „ Zweifellos, oh mächtig bewaffneter Arjuna, der Geist ist schwer zu beherrschen und ruhelos. Aber durch Abhyasa und durch Vairagya kann er bezähmt werden“ BhG 6.35
Nicht bloß zu üben, die Gegenwart voll zu erfassen, sondern sich anzustrengen, den Geist zu beherrschen, Übungen zu machen, um auf dem spirituellen Weg voranzuschreiten.
1.13. „Anstrengung (Abhyasa) ist die ständige Bemühung, die Bewegungen des Geistes zu befrieden.“
1.14. „Sicher kommt Erfolg, wenn geeignete spirituelle Übungen über lange Zeit, durchgehend, ernsthaft und bedächtig ausgeführt werden.“ oder „Die Praxis wird fest begründet, wenn sie über lange Zeit hinweg ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe fortgesetzt wird.“
1.15. „Gelassenheit ist das Gleichgewicht im Bewusstsein, wenn das Verlangen nach allen Dingen erloschen ist.“ oder „Verhaftungslosigkeit ist der Bewußtseinszustand, in dem der Durst nach sichtbaren und unsichtbaren Dingen durch Meisterung des Willens besänftigt ist.“
Unser Geist ist es gewöhnt, sich in den sichtbaren und unsichtbaren Objekten zu verlieren. Wir verlangen nach Befriedigung unserer Wünsche. Vairagya ist die Loslösung von jeglichen Objekten. Alles, was wir wahrnehmen können, ist in diesem Sinne ein Objekt. Wir sind identifiziert bzw. definieren uns über den Körper, die Gefühle, die Gedanken, die Weltanschauung, den Glauben, unsere Besitztümer, unsere Träume, unsere Wünsche, unsere sozialen Verbindungen,... Kurz: Mit dem, was wir wahrnehmen. Wenn wir es schaffen, uns ganz von jeglichen Objekten zurückzuziehen, verschmelzen wir mit dem Bewusstsein, welches wir sind. Das Problem ist: Wir haben Wünsche, Erwartungen und Vorurteile, die hartnäckig mit der Welt der Objekte verbunden sind. Diese können wir auch nicht einfach ignorieren, und so ist es ein langwieriger Prozess, diese Losgelöstheit von den Objekten zu erfahren. Swami Sivananda hat dazu etwas Bedeutendes angemerkt: „Du sollst dich weiterhin auch am Duft der Blumen erfreuen!“ Also wir sollten uns nicht ganz von der Welt lösen, sondern in ihr aktiv bleiben. Schließlich haben wir unser Dharma, unsere Lebensaufgabe, und wollen dem auch gerecht werden!
1.16. „Die höchste Gelassenheit kommt durch Erfahrung des wahren Selbst, dann verlieren die Wirkkräfte der Natur ihre Macht.“
Yoga Sutra 1.17-18 – Zwei Arten von Überbewusstsein (Samadhi)In diesem Teil des Yogasutra erläutert Patanjali kurz und knapp die beiden grundlegenden Arten von Samadhi, also den beiden Ebenen des Überbewusstseins.
1.17. „Samadhi mit Bewußtsein wird von Ahnen, Nachdenken, Freude und dem Bewußtsein der Individualität begleitet.“ oder „Diese vollkommene aber bedingte Erkenntnis entsteht schrittweise aus Ahnung, Wissen, Freude und Verschmelzen.“
Der erste Pada, das erste Kapitel des Patanjali-Yogasutras heißt Samadhi-Pada. Hier beschreibt Patanjali nun die zwei wichtigsten Arten von Samadhi, die überbewussten Zustände. Samprajnata-Samadhi ist Überbewusstsein mit Erkenntnis und wird von vier Tätigkeiten begleitet. Es wird bereits das Überbewusste erfahren, jedoch sind noch nicht alle Aktivitäten in der Prakriti (=die Schöpfung, Materie) gelöst.
Den Zustand des Überbewusstseins zu erfahren bedeutet noch nicht, dass man es „geschafft“ hat. Das Überbewusstsein wird noch mit Hilfsmitteln erreicht und es besteht noch die Möglichkeit der Identifikation damit. Die vier Hilfsmittel sind eine Stütze, ein Krückstock, den es dann noch loszulassen gilt, wenn das Überbewusstsein erreicht ist. In verschiedenen Yogaschriften wird der überbewusste Zustand sehr genau differenziert, so kann der Übende relativ genau feststellen, welche Erfahrung er gerade durchmacht. Vorrausgesetzt, er ist keiner Täuschung durch sein Ego unterlegen, was zumeist vom Übenden unerkannt bleibt.
1.18. „Wenn jegliche Wahrnehmung erlischt und nur unmanifeste Prägungen verbleiben, entsteht der andere Zustand der Erkenntnis. Dieser basiert auf beharrlicher Praxis.“ oder „Asamprajnata Samadhi ist erreicht, wenn alle geistigen Aktivitäten aufhören und nur unmanifestierte Eindrücke im Geist verbleiben.“Hier ist also nicht nur das Überbewusste erreicht, sondern die Selbstverwirklichung. Der Übende ist fähig geworden, den in Vers 2 beschriebenen Zustand des Yoga ganz zu erfahren. Die Bewegungen des Geistes sind gänzlich zu Ruhe gekommen: Er ist ganz mit der Erfahrung des Göttlichen bzw. des Selbst verschmolzen. Die Eindrücke, die man in diesem Zustand hat, sind vollkommen unmanifest. Also kann man sie leider nicht mehr in Worte fassen. Auch Meister wie Ramana Maharshi und Ananadamayi Ma haben Phasen intensiver Praxis gehabt. Obwohl bei ihnen Samadhi quasi von selbst passiert ist, mussten sie dennoch daran arbeiten, sich ganz zu lösen, um ganz im höchsten Bewusstsein aufzugehen.
Yoga Sutra 1.19-22 – Arten von Yogis
Die folgenden Verse des Patanjali-Yogasutras werden bei Yogapraktizierenden und Indologen kontrovers diskutiert und sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie unterschiedlich Sanskrit übersetzt und interpretiert werden kann.
1.19. „Asamprajnata Samadhi durch Geburt kann von denen erreicht werden, die früher Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit Prakriti erlangt haben.” (Swami Vishnu-Devananda) oder „Zur wahren Erkenntnis kommen manche von Geburt aus, andere durch einen begnadeten Körper, wieder andere durch Naturverbundenheit.“
So unterschiedlich kann das Werk von Patanjali heute gedeutet werden! Es kommen gänzlich andere Bedeutungen heraus, je nach Übersetzung.
1.20. „Andere erreichen die innere Stille durch Glauben, Energie, Erinnerung und klares Bewusstsein.“ oder „Für wieder andere geht Glaube, Wille, Erinnerung, objektive Betrachtung und Weisheit voraus.“
Die meisten Menschen müssen sich auf einen langen Weg zum höchsten Ziel einrichten. Patanjali nennt hier vier bzw. fünf Punkte, die auf dem Weg zum Ziel wichtig sind, wobei der Fokus auf dem Weg immer auf dem Weg selbst liegen sollte und nicht auf dem Ziel. Es ist gut, sich immer wieder an diese Punkte zu erinnern und zu sehen, ob sie im Leben verwirklicht werden. Sie stehen auch in Verbindung zu den acht Gliedern des Raja Yoga (Ashtanga), die Patanjali später einführt. Es heißt in der Interpretationsweise, der ich folge, dass man entweder, wie in Vers 19 Samadhi „von selbst“ (durch Vorarbeit in anderen Leben) erreicht, oder eben durch die Punkte in Vers 20 dort hingelangt. Diese einzelnen Punkte sind:
Glauben: Der feste Glaube, das Vertrauen an das zu erreichende Ziel. Ohne einen Meister zu haben, dem man vertraut, oder ohne dass man klar an eine Lehre glaubt, der man folgt, kann man kaum zum Ziel gelangen. Es braucht eine Ausrichtung und die Überzeugung, es dort hin zu schaffen.
Wille: Nur durch einen starken Willen kann man den Weg zu Ende gehen. Es gibt viele Fallen auf dem Weg, viele Sackgassen, in die man gerät, und es geht ständig auf und ab. Nur durch einen eisernen Willen kann man sich immer wieder auf dem Weg ausrichten und einen Schritt nach dem anderen gehen.
Erinnerung: Wir müssen uns immer wieder erinnern, uns besinnen. So viele Verlockungen entlang des Wegesrands lenken uns ab und laden uns zum Verweilen ein.
Klares Bewusstsein: Wir brauchen eine Ahnung des überbewussten Zustandes, eine Idee, was es bedeutet, sich zu befreien. Wie eine Möhre, die dem Esel vor die Nase gehalten wird, um ihn anzutreiben, benötigen wir eine Ahnung des höchsten Zieles.
1.21. „Es wird schnell erreicht, wenn der Wunsch intensiv ist.“ oder „Durch intensive Praxis kommt man dem Ziel nahe.“
1.22. „Daher kann der Wunsch nach Befreiung mäßig, mittelmäßig oder intensiv sein.“ oder „Mild, maßvoll oder mächtig kann diese Praxis deshalb sein.“
Yoga Sutra 1.23-26 – Hingabe an das Göttliche1.23. „Oder durch Hingabe an Gott (kommen die Bewegungen des Geistes zur Ruhe).“ oder „Auch durch Hingabe an ein ideal gedachtes Wesen (kann das Ziel erreicht werden).“
In der Yoga-Philosophie wird im Allgemeinen (und im Advaita Vedanta im besonderen) zwischen Brahman und Ishvara unterschieden. Brahman ist das alldurchdringende kosmische Bewusstsein jenseits von Formen, Eigenschaften und Beschreibbarkeit, also das Göttliche, das Absolute, welchem wir mit keinen Worten gerecht werden können. Mit Ishvara ist dann das Göttliche aus der Sicht unseres beschränkten Bewusstseins gemeint. Also Gott mit Eigenschaften, oder eine persönliche Form des Göttlichen.
Hier bringt also Patanjali den Bhakti-Aspekt mit in das Yogasutra. Bhakti bedeutet Hingabe an Gott bzw. Demut gegenüber dem Göttlichen. Es gilt als der einfachste Weg zu Gott bzw. zum Selbst und bedarf keiner besonderen Fähigkeiten, außer dem Wunsch, sich dem Göttlichen ganz hinzugeben. „Dein Wille geschehe!“
1.24. „Ishvara ist individuell erfahrenes göttliches Bewußtsein, unberührt von Leid, Handlungen, Handlungsergebnissen oder Wünschen.“ oder „Ishvara ist höchstes Bewusstsein mit Form, das unberührt ist von den Hindernissen des spirituellen Aspiranten, den bedingten Handlungen und Folgen oder Erinnerungen und Wünschen.“
Wir können erst das Göttliche in seiner wahren formlosen Essenz erfahren, wenn wir uns ganz von der Welt der Erscheinungen gelöst haben. Brahman oder das eigenschaftslose Göttliche ist jenseits der Erfahrungen unseres gewöhnlichen Bewusstseins. Ishvara hingegen können wir erfahren, wenn wir unser Leiden überwunden haben, unser Karma aufgelöst haben und Wunschlosigkeit leben.
1.25. „In ihm liegt der Same der Allwissenheit.“ oder „Er ist unübertroffen und Quell allen Wissens.“
Um zur höchsten Weisheit zu kommen, können wir aus yogischer Sicht viele Wege nutzen: Entweder ganz nach Innen gehen und in tiefer Meditation das Selbst in der Stille erfahren, oder uns öffnen für das Göttliche und es durch Hingabe an Gott in uns zum Ausdruck bringen. Wir können uns für eines entscheiden oder im ganzheitlichen, integralen Sinne beides üben.
1.26. „Unbegrenzt durch Zeit ist Er, ursprünglich, der Lehrer aller Lehrer.“
Gott ist also der erste, ursprüngliche und höchste Lehrer.
Yoga Sutra 1.27-29 – Der Urklang OMHier schreibt Patanjali in seinem Yogasutra über die Wichtigkeit des heiligen Urklangs ‘Om’, der uns mit dem Ursprung unserer Seele verbinden kann.
1.27. „Er manifestiert sich in dem Laut Om.“
1.28. „Wiederholung voller Demut und Bewusstwerdung der Bedeutung von Om führt zu Ishvara.“
1.29. „Dadurch offenbart sich der Erkennende und Hindernisse lösen sich auf.“
Wenn wir also den Laut „Om“ wiederholen, so wie Patanjali es empfohlen hat, also mit Hingabe und Bewusstsein über den Sinn, werden wir uns hin zu Gott in unserem Inneren entwickeln.
Yoga Sutra 1.30-32 – Hindernisse auf dem Weg und die ÜberwindungIn den folgenden drei Versen gibt Patanjali in seinem Yogasutra ein wunderbares Werkzeug zur Selbstanalyse.
Durch die 4 Symptome erkennen wir, wenn wir feststecken, und können dann anhand der neun Hindernisse sehen, wo wir stecken. Anschließend nennt er die Lösung zur Überwindung der Hindernisse. Ein sehr hilfreicher Abschnitt für die Meditation.
1.30. „Die Hindernisse, welche den Geist trüben sind: körperliche Einschränkung, Trägheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Abgelenktheit (Verlangen nach Vergnügen), Täuschung, mangelnde Zielstrebigkeit, Unbeständigkeit.“
Patanjali zählt im Yogasutra neun Hindernisse auf, die uns auf dem spirituellen Weg ausbremsen. Wenn wir uns dafür entscheiden, uns vom Weltlichen abzukehren und uns ausrichten auf die Selbsterkenntnis, wirken diametrale Kräfte in uns. Wir streben nach oben zum Licht, aber es gibt auch Kräfte in uns, die nach unten zur Dunkelheit streben. Diese Kräfte erzeugen Reibung und dadurch Hindernisse. Ich werde die Hindernisse im Einzelnen nochmal am Beispiel der Meditation erläutern:
Körperliche Einschränkungen: wie Rückenschmerzen, Knieprobleme, Juckreiz oder Ähnliches, lassen unseren Geist nicht in Ruhe und lenken unseren Fokus immer wieder weg vom Objekt der Meditation. Mit der Zeit gewöhnt sich aber der Körper an die Sitzhaltung und wir entwickeln ein anderes Körperbewusstsein.
Trägheit: Teilnahmslosigkeit und Desinteresse breiten sich gerne im Geist aus während der Meditation. Wir wissen zwar, wie gut uns die Praxis tut, und möchten gerne daran arbeiten, den Geist zu klären, jedoch fallen wir des Öfteren in diese Trägheit.
Zweifel: Es liegt in der Natur unseres Geistes, ständig neue Ideen und Impulse zu produzieren. Wenn wir uns nicht davon lösen haben unsere Gedanken Macht über uns. Wir lassen uns auf unproduktive Gedanken ein und zweifeln am Sinn der Übung.
Gleichgültigkeit: Der Gleichmut, den es zu entwickeln gilt, kann schnell in Gleichgültigkeit umschlagen. Wir verlieren das Interesse an der Meditation und schweifen innerlich ab. Mit der Zeit werden wir gefestigt in der Praxis und werden nachlässig, es gilt den sog. „Anfängergeist“ zu bewahren.
Faulheit: Unser Geist neigt zu Trägheit und Faulheit. Oft fehlt es uns an Enthusiasmus, um uns zu fokussieren, weil es langweilig erscheint. Mit der Zeit lösen wir uns von der Trägheit und entwickeln die Energie die es braucht, um sich im Inneren ganz auf die Stille einzulassen.
Abgelenktheit: Wir sind es gewohnt, mit unserer Aufmerksamkeit bei den Sinnesobjekten zu sein. Wir identifizieren uns mit Dingen, die wir wahrnehmen. So strebt auch der Geist in der Meditation nach außen und ist dadurch abgelenkt.
Täuschung: Wenn wir uns gedanklich in unsere Ansichten reinsteigern, und unsere Überzeugungen engstirnig werden, verlieren wir die Offenheit und Erwartungslosigkeit, die es für die Meditation braucht. Selbstverwirklichung geht einher mit dem Loslassen aller Konzepte!
Mangelnde Zielstrebigkeit: Meditation ist letztlich eine Lebenseinstellung, ein Lebensweg. Das Ziel ist im Grunde nebensächlich. Entscheidend ist, sich auf den Weg auszurichten. Wenn wir hohe Erwartungen haben, blockieren sie unsere Offenheit und wir werden frustriert, weil wir sie nicht erreichen.
Unbeständigkeit: Wir kommen nur voran, wenn wir beständig üben. Unregelmäßigkeit wirft uns immer wieder zurück in der Tiefe unserer Erfahrung. Die Meditation führt nur tiefer, wenn wir sie täglich üben und in der Meditation achtsam bleiben.
1.31. „Schmerz, Verzweiflung, Unruhe und unregelmäßige Atmung sind die Symptome dieses verwirrten Geisteszustandes.“ oder „Leid, Depression, Nervosität und unruhige Atmung ergeben sich aus dieser Zerstreuung.“
1.32. „Zur Beseitigung (der 9 Hindernisse und deren 4 Symptome) sollte man sich auf ein Ziel ausrichten.“ oder „Um diese zu vermindern, reicht die Praxis eines Aspektes der Wahrheit.“
Yoga Sutra 1.33 – Einstellung gegenüber anderen1.33. „Das Geistfeld wird geklärt durch die Kultivierung von Empathie, Hilfsbereitschaft, Heiterkeit und Gelassenheit in Situationen von Freude und Leid, Erfolg und Misserfolg.“
Swami Vivekananda sagt dazu in seinem Yogasutra-Kommentar:
„Wir müssen Freundschaft für alle empfinden, wir müssen den Unglücklichen gegenüber barmherzig sein, mit den glücklichen Menschen glücklich und gleichmütig gegenüber den schlechten. So behandeln wir alle Objekte, die sich uns darbieten.“
Empathie: Liebevoll und freundlich zuhören und wohlwollend akzeptieren, wie der andere ist und was er sagt.
Hilfsbereitschaft: Mitfühlend und emphatisch wahrnehmen, was ist und welche Botschaft gesendet wird. Feinfühligkeit in der Kommunikation entwickeln und Nachrichten zwischen den Zeilen lesen. Hier geht es vor allem darum, Mitgefühl gegenüber dem Leiden anderer zu kultivieren und hilfsbereit zur Seite zu stehen.
Heiterkeit: uns mit dem anderen freuen, die schönen Momente des Lebens mit dem anderen teilen. Uns begeistern für den Enthusiasmus anderer. Es wird in der Spiritualität immer das Mitgefühl betont. Dies gilt es aber nicht nur im Leiden, sondern auch im Freuen zu entwickeln.
Gelassenheit: Auf Einsicht basierter Gleichmut gegenüber dem, was geschieht. Also nicht gleichgültig werden, sondern neutral beobachten und wohlwollend akzeptieren, was ist.
Wir entwickeln ein ruhiges und friedfertiges Gemüt und können in der Meditation in die Tiefe gehen.
Diese vier Punkte sind auch ein wunderbares Gegenmittel zu ungünstigen Geisteszuständen, oder den „Geistesgiften“ und „Feinden des Yogi“.
Empathie: gegen Böswilligkeit und Hass sowie Widerstand gegenüber dem, was ist
Hilfsbereitschaft: Gegen schmerzhafte Zustände, Frustration und emotionale Kälte
Heiterkeit: Gegen Leiden, Neid, Eifersucht und Mangel an Lebensfreude
Gelassenheit: gegen Angst, Ablehnung, Verhaftung an Sinnesfreuden und falsche Identifikationen
Yoga Sutra 1.34-39 – Methoden zur einpünktigen AusrichtungIn diesem Abschnitt des Yogasutra nennt Patanjali verschiedene Techniken, um den Geist zu beruhigen. Wenn sie geübt werden, wie in den Versen 12-16 ausgeführt, mit beharrlicher Anstrengung und losgelöster Nichtidentifikation, erfahren wir den Zustand von Yoga.
1.34. „Es (Klarheit des Geistes wie in Vers 33 beschrieben) wird auch durch das Ausstoßen und das Stillhalten des Atems erreicht.“ oder „Es kann auch durch Atemübungen mit Ausatmen und Anhalten erreicht werden.“
Dies ist aus meiner Sicht keine Anleitung zum Pranayama (=Yoga-Atemübungen), wie manche Kommentatoren meinen, sondern es geht Patanjali wohl um einen Schwerpunkt für die Meditation. Da der Atem immer vorhanden ist und natürlich abläuft, bietet er ein ideales Objekt für die Ausrichtung in der Meditation. Es braucht sehr viel Achtsamkeit, um den vermeintlich langweiligen Atem über eine längere Zeit zu beobachten, ohne abzuschweifen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das langsame Ausatmen richten und die Lücken zwischen den Atemzügen beobachten, kommen wir in die Stille. Mit dem Ausatmen lassen wir los, geben verbrauchte Energie nach außen ab. Durch das Beobachten der Stille zwischen den Atemzügen bauen wir eine hohe Konzentration auf. Je tiefer wir in die Meditation eintauchen, desto langsamer geschieht die Ausatmung.
Je mehr unser Körper in den Ruhemodus umschaltet, desto größer werden die Lücken zwischen den Atemzügen. Die Beobachtung des Atems alleine kann uns zum überbewussten Zustand führen, so deutet es der Yogasutra hier an. In Vers 31 nannte Patanjali die 4 Symptome für das Feststecken in den Hindernissen. Er beschrieb auch die unruhige Atmung als Indiz für ein Blockieren des Fortschritts. Durch die einpünktige Beobachtung des Atems beruhigen wir ihn, überwinden die Hindernisse und klären dadurch den Geist.
1.35. „Geistige Stabilität wird erreicht, wenn die Bewegungen der Sinne zu den Objekten beobachtet werden.“ oder „Durch Kontemplation über Objekte und Eindrücke wird Stabilität und Bündelung des Geistes bewirkt.“ oder „Auch die intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand führt zur Festigkeit des Geistes.“
Richten wir unseren Geist einpünktig auf ein beliebiges Objekt der Meditation aus, werden wir immer mehr den geistigen Vorgang der Konzentration erfassen und verstehen. So werden unsere Sinne, so wird unsere Wahrnehmung auf ein höheres Niveau gebracht. Wir nehmen den Vorgang der Wahrnehmung wahr, wir beobachten das Beobachten. Durch die Versenkung in die Meditation auf ein Objekt erreichen wir irgendwann eine Meta-Ebene und erfahren, wie der Geist funktioniert.
1.36. „Oder durch Konzentration auf inneres Licht, das jenseits von Leid ist.“ oder „Auch durch Sammeln auf das innere Licht ohne Leid.“
In unserem Inneren gibt es die Stille und das Licht. Einen Ort, der jenseits allen Leids ist, und auf den wir uns immer beziehen können. Durch Achtsamkeit werden wir diesen Ort im Inneren finden und können unsere Aufmerksamkeit dann ganz auf dieses Strahlen ausrichten.
1.37. „Oder durch Fixieren des Geistes auf jemanden, der Identifikation und Verhaftungen transzendiert hat.“
1.38. „Oder durch (Meditation auf die) Erkenntnis, die aus einem Traum im Schlaf entsteht.“
Bewusstes Träumen und die Deutung von Träumen sind ein eigenständiger Weg. Es gibt die Möglichkeit, sein Bewusstsein im Traum zu trainieren und dort tiefe Erfahrungen zu machen. Im Yoga sprechen wir von den vier Bewusstseinszuständen: wach sein, träumen, Tiefschlaf und Turya – „das Vierte“. Turya ist das Überbewusstsein, welches jenseits der drei anderen Zustände ist. Es umfasst sozusagen überbewusst die anderen Arten des Bewusstseins. Je mehr das bewegte Geistfeld zu Ruhe kommt, desto näher kommen wir dem überbewussten Zustand.
1.39. „Auch durch Meditation über das, was man liebt.“ oder „Auch durch Versenkung in die Liebe.“
Yoga Sutra 1.40-41 – Geistige Macht und Klarheit1.40. „Die Meisterschaft (eines Verwirklichten), umfasst alles vom Atom bis zum Kosmos.“ oder „Der erwachte Yogi kontrolliert alles, vom Kleinsten bis zum Unendlichen.“
Wenn wir also das höchste Bewusstsein erreichen, stehen wir über allem, was manifest ist.
1.41. „Mit ruhigem Geist realisiert der Yogi die Einheit von Subjekt, Objekt und Wahrnehmungsprozess, und wie ein perfekter Diamant nimmt er die Farbe der Umgebung an.“ oder „Sind die Gedankenwellen beruhigt, nimmt der Geist wie ein Kristall die Farbe des Objektes an, es verschmilzt der Wahrnehmende, die Wahrnehmung und das Wahrgenommene miteinander ins Überbewusstsein.“
Yoga Sutra 1.42-46 – Überbewusstsein in Verbindung mit Objekten
In den folgenden Versen beginnt Patanjali die überbewussten Zustände zu beschreiben. Zuvor hatte er in den Versen 17 und 18 zwischen zwei Arten von Samadhi unterschieden: Überbewusstsein mit und ohne bedingte Erkenntnis. Nun unterteilt das Patanjali-Yogasutra die niedrigeren Zustände noch etwas detaillierter in vier Arten, die ich hier nochmal anders vorstellen möchte, so wie Sukadev es interpretiert:
Savitarkā: Identifikation mit dem physischen Universum in Raum und Zeit
Nirvitarkā: Identifikation mit dem physischen Universum als organisches Ganzes, jenseits von Raum und Zeit
Savicārā: Identifikation mit dem kosmischen Gemüt und seinen Veränderungen
Nirvicārā: Jenseits aller Veränderungen, kosmisches Gemüt als Ganzes
Letztlich ist jede Meditation auf ein Objekt in eine der 4 Kategorien einteilbar. Die ersten beiden haben mit groben Objekten zu tun, die anderen beiden mit subtilen.
1.42. „Dieser Zustand mit beigemengtem Hörensagen-Wissen, Schlussfolgerungswissen oder Imagination ist vom Nachdenken begleitete Vollendung.“
Savitarkā-samāpattiḥ gilt als eine der niedrigen Zustände von Überbewusstsein. Dieser Samadhi ist mit Objekten und Vorstellungen verbunden. Das Bewusstsein löst sich zwar von den Objekten und geht in das Überbewusste ein, ist jedoch noch verbunden mit den Erscheinungen der Welt. Es gehört noch zu den Zuständen von saṁprajñāta, also Überbewusstsein mit bedingter Erkenntnis, wie durch Patanjali in Vers 17 erläutert. In diesem Zustand sind wir noch mit den Objekten verbunden, ohne ganz zu verschmelzen, wie in Vers 41 erläutert.
Es wird ein Wort oder Name mit dem Objekt verbunden, es wird eine Bedeutung oder Identität zugeordnet, oder es wird Wissen bzw. Vorstellungen in Bezug auf das Objekt abgerufen. So taucht der Übende in diesem Zustand zwar in das Überbewusste ein, ist aber noch mit groben Objekten verbunden. Es geht hier genau genommen noch nicht um Samadhi, sondern um Vorstufen davon. Das, was Patanjali als samāpattiḥ beschreibt, bedeutet „Zusammentreffen“, also Alltagsbewusstsein trifft auf Überbewusstsein und verschmilzt durch die vier Stufen miteinander. Savitarkā in diesem Vers ist also die gröbste Stufe und knapp gesagt von Nachdenken begleitet.
1.43. „Wenn alle Vorprägung gereinigt, die eigene Natur klar ist, dann leuchtet nur das betrachtete Objekt selbst. Dies ist Nirvitarka-Samapattih.“ oder „Im höheren Überbewusstsein ist der Geist frei von Subjektbezogenheit sowie früheren Eindrücken und reflektiert so die Wirklichkeit ohne Einwirkung.“Auch hierbei handelt es sich auch noch um einen Saṁprajñāta-Zustand. Man verschmilzt schrittweise mit dem reinen Bewusstsein und geht nicht plötzlich in asaṁprajñāta, den höchsten Zustand, wie bereits erläutert. Die Wirklichkeit, also das Objekt der Meditation, erscheint nun völlig klar und ohne Färbungen. Es werden nicht wie bei Savitarkā noch Eindrücke aus Wort, Form, Bedeutung und Vorstellungen beigemischt. Wenn wir aufgehört haben zu denken und zu bewerten, erfahren wir die direkte Wirklichkeit der Objekte und können über diese meditieren.
Es liegt in der Natur des unerwachten Geistes, alle Wahrnehmungen zu färben und einzuordnen. Wollen wir in tiefere Schichten des Bewusstseins eintauchen und die Welt unmittelbar wahrnehmen, wie sie ist, müssen wir uns von dieser Gewohnheit des Geistes lösen. Jede „Vorstellung“ ist etwas, was wir „vor uns stellen“ und dadurch nicht sehen, was wirklich ist. In diesem samāpattiḥ-Zustand, der nirvitarkā genannt wird, haben wir uns von den Begrenzungen in savitarkā gelöst. Wir sehen die Objekte, wie sie sind.
1.44. „Betrachtet das Subjekt ein subtiles Objekt, so sind es ebenso zweierlei Zustände, mit und ohne Überlegung.“ oder „Dadurch werden auch die nächsten beiden Zustände deutlich, die sich von selbst oder durch Erwägungen auf etwas Feinstoffliches ausrichten.“
Hier macht Patanjali also nochmal die gleiche Einteilung, nur dass sich der Zustand auf ein subtiles Objekt bezieht, statt wie zuvor auf ein grobes. Dabei ist savicārā mit Überlegung, Erwägung, in Betracht ziehen, Prüfung, Untersuchung - und Nirvicārā ohne. Wir sind also in den Versen 42 und 43 in den groben Objekten der Wahrnehmung von der Identifikation und Bewertung zur Loslösung gekommen, um uns nun feinstofflicheren Objekten zuzuwenden. Diese Begrifflichkeiten der vier Arten von Samāpattiḥ sind zum einen als Zustände der tiefen Meditation zu verstehen, zum anderen auch als Anleitung zur Versenkung nach innen.
Schrittweise lösen wir uns von groben und dann feinen Objekten der Wahrnehmung, indem wir jede Bewertung und Identifikation auflösen. Der Meditierende ist bei Savicārā in einem Stadium, in dem der Geist auf von Sinneswahrnehmung und Denken gegründetem Wissen basiert. Löst sich diese auf, kommt man zu Nirvicārā. Oder um Sukadevs oben genannter Einteilung zu folgen, geht es bei diesen beiden Stadien zunächst in savicārā um die „Identifikation mit dem kosmischen Gemüt und seinen Veränderungen“.
Wir identifizieren uns mit dem universellen Geist, die alldurchdringende Ebene von universellen Gedanken und Gefühlen, jenseits der individuellen Erfahrungen - allerdings eben zunächst noch mit Analyse des Erlebten. Im nächsten Stadium, welches nirvicārā genannt wird, überschreiten wir diese Begrenzung und erfahren „das kosmische Gemüt als Ganzes, jenseits aller Veränderungen“. Wir tauchen also in die Erfahrung des Subtilsten ein, ohne es zu bewerten (was ein niedrigeres Stadium ist) oder damit zu verschmelzen (was dann das höhere Stadium bedeutet).
1.45. „Ein Objekt der Betrachtung kann bis zum Undefinierbaren subtil sein.“ oder „Samadhi ausgerichtet auf das Subtilste erstreckt sich bis zum Unmanifestierten.“
Wenn wir uns auf das Subtilste ausrichten, werden wir uns dem Jenseitigen nähern. Hier wird es Zeit, die Grundlage der Samkhya-Philosophie einzuführen, auf welcher die Lehre von Patanjali aufbaut. Samkhya ist eines der klassischen Darshanas, der Philosophie-Systeme des Hinduismus. Es ist ein duales philosophisches Konzept, welches trennt zwischen Purusha und Prakriti:
Purusha: das absolute Bewusstsein, die Urseele, der Ewige, der metaphysische Weltgeist - der unveränderlich ist, das kosmische Selbst, Subjekt.
Prakriti: die Natur, das Benennbare, sich manifestierende, das Wahrnehmbare, das ursächliche Entstehen, Ursprung der Materie, Objekt
Und so ist die Erfahrung des Purusha zugleich das Erreichen des höchsten Bewusstseins. Alle Stadien zuvor haben noch mit der Verwicklung in der Prakriti zu tun. Je mehr wir uns in der Meditation auf immer subtilere Objekte ausrichten, desto näher kommen wir dem Unmanifesten. Wir stellen dann fest, dass es nur eines gibt und uns die Welt zuvor nur als dual oder getrennt erschienen ist. Durch die vier Stadien von Samāpattiḥ hindurch lösen wir uns immer mehr von Prakriti, um uns vom Subtilsten aus auf Purusha zu richten.
Sriram sagt:
„Das Unbenennbare ist die Grenze dafür und kann auch noch Objekt der Betrachtung sein.“
1.46. „All diese vier Bewusstseinszustände sind ursächlich oder mit Samen.“ oder „Diese vier Arten von Samāpattiḥ sind Überbewusstsein bezogen auf ein Thema.“Es geht also bei diesen Zuständen immer um die Ausrichtung auf Objekte, also um Erfahrungen mit der Prakriti. Diese Stadien der Entwicklung haben alle noch Verbindungen mit der Welt der Erscheinungen, das Selbst jedoch ist im Grunde losgelöst von den Wahrnehmungen. Erst wenn wir uns von der Prakriti ganz lösen, also auch vom Subtilsten, können wir Purusha ganz erfahren. Und wenn die Erfahrung oder Wahrnehmung auch noch so subtil ist, Objekte sind immer Prakriti. Das höchste, absolute Purusha ist das Subjekt, der Wahrnehmende oder die Wahrnehmung selbst.
Zwar sind die genannten Zustände bereits sehr, sehr tiefe Erfahrungen, die den meisten Menschen aufgrund mangelnder Bereitschaft zur Disziplin unerschlossen bleiben, jedoch will Patanjali mehr. Er will eine Landkarte bieten, um bis zum höchsten Bewusstsein zu kommen. Und so können diese Verse, so abstrakt sie auch dem Leser erscheinen mögen, dem spirituellen Aspiranten eine sehr konkrete Hilfe sein auf dem Weg. Es ist wichtig, immer wieder genau zu prüfen, wo man steht und wie es weiter geht. Und so sind diese Verse für den weit entwickelten Yogi Gold wert! Zu wissen, dass solange man in der Meditation noch auf ein Objekt ausgerichtet ist, und sei es noch so fein, man noch tiefer gehen muss, ist wichtig!
Yoga Sutra 1.47-51 – Überbewusstsein jenseits der Prägungen
Nachdem Patanjali zuvor die Stadien der Meditation beschrieben hat, die bereits als beginnendes Überbewusstsein bezeichnet werden können, beginnt er nun höhere Stadien zu erläutern. Wo genau die Grenzen zwischen einer sehr tiefen Meditation und dem Erfahren von Samadhi liegen, ist schwierig intellektuell nachzuvollziehen.
Letztlich dienen diese Verse (und die aus dem letzten Abschnitt) der Orientierung für denjenigen, der sie erfährt. Es werden sehr deutlich die einzelnen Stufen und Aufgaben aufgezeigt, die für jemanden, der nicht in diesen Zuständen verweilt, nur sehr abstrakt erscheinen. Wenn man die Ebene der Prakriti wie in Vers 45 beschrieben überwindet, erreicht man die höheren Stadien des Überbewusstseins, die nun noch etwas erläutert werden.
1.47. „Wenn Nirvichara-Samapattih regelmäßig erfahren wird, steht die Erfahrung des Selbst klar vor einem.“ oder „Bei der Erfahrung von Wissen ohne Fragestellung ist die klare Erfahrung des Selbst das Resultat.“
Wenn man also durch die Stadien der Meditation hindurch geht und sich auf das Subtilstmögliche ausrichtet, ist die Erfahrung des Selbst unausweichlich. Und erst wenn man diese (wie man sagt, sehr wonnevollen) Zustände überwindet, wird man die Verwirklichung erreichen. Denn wie bereits erläutert, ist auch das Subtilstmögliche oder das Allerfeinstofflichste, auf das wir ausgerichtet sind, immer noch ein Objekt der Wahrnehmung. Das höchste Ziel ist das Erfahren der Einheit von Subjekt und Objekt. So wie Patanjali das bereits im 41. Vers erläutert hat: Der Wahrnehmende, der Prozess der Wahrnehmung und das Objekt der Wahrnehmung verschmelzen zu einer Einheit. Es wird dann die Prakriti, die Ebene der vergänglichen Erscheinungen dieser Welt, überwunden und man tritt in die Erfahrung des Purusha ein.
Die verwirklichten Meister sagen, dass wir erst dann die Welt so sehen, wie sie tatsächlich ist. Und dieses ist nicht zu beschreiben, ausser durch Verneinung. Im Vedanta wird diese Art der Annäherung an die Wirklichkeit „Neti-Neti“ genannt: „Nicht dies, nicht das“. Es wird also jede Vorstellung der Wirklichkeit verneint, jede Idee über die Natur des Ich negiert, jedes Konzept abgelehnt, bis nur noch die direkte Erfahrung des Unbeschreiblichen da ist.
Von Paramahansa Yogananda stammt dieses wunderbare Zitat über das Erleben des Überbewusstseins:
„Überall Zentrum, nirgends Peripherie.”
1.48. „Erst dann wird das Bewusstsein von absoluter Wahrheit erfüllt.“ oder „In diesem Zustand erfahren wir das wahre Wissen.“
Alles, was vorher war, gleicht nicht dem, was man erlebt, wenn man ganz in die Erfahrung des Selbst eintaucht. Jede Erfahrung, die man macht, in der man sich selbst als getrennt vom Objekt der Wahrnehmung erlebt, ist nicht das Einheitsbewusstsein. Also auch wenn wir vor Freude in der Meditation platzen könnten, solange wir sie noch beobachten können, sind wir nicht damit verschmolzen, und nicht in der Nondualität. Auch Erfahrungen von Engeln, Lichtern, Harfenklängen oder Ähnlichem sind laut Patanjali und anderen Meistern noch nicht das höchste Bewusstsein.
1.49. „Dieses Bewusstsein geht über gehörtes und gefolgertes Wissen hinaus und hat eine besondere Beziehung zum Objekt.“ oder „Es entstehen Erkenntnisse, die nicht aus den Schlussfolgerungen oder Gehörtem zum Objekt kommen.“
Eine höhere Intuition erwacht im Inneren. Die Quelle des eigenen Wissens ist nicht mehr nur Schlussfolgerung oder Gehörtes, sondern das Bewusstsein selbst. Durch die Verschmelzung mit dem Objekt der Wahrnehmung können wir den tieferen Sinn erfassen. Eine neue Qualität der Betrachtung der Welt ist erwacht, jenseits von Schubladen, Konzepten und Vorstellungen. Es entsteht Einsicht in die Dinge. Wir folgen nicht mehr dem Gelernten und gehörten auch nicht den Schlussfolgerungen und unserem Verstand. Wir erfahren die Dinge unmittelbar, wie sie sind. Im 7. Vers sagt Patanjali noch: „Wahrnehmung, Schlußfolgerung und überlieferte Lehre sind Mittel zu richtiger Erkenntnis.“ Klar, solange wir nicht die Verwirklichung erreicht haben, denn dann erfahren wir direkt die Wirklichkeit, wie sie ist. Wir verschmelzen dann mit der Realität.
1.50. „Aus dieser Erfahrung entsteht eine neue Prägung, welche die alten ersetzt.“ oder „Die Eindrücke aus diesem Bewusstsein ersetzen alle anderen.“
Wir lösen uns also von all den „Saṁskāras”, durch die unser Sein zuvor beeinflusst war, und gewöhnen uns an die neue Weise das unmittelbare Sein zu erleben. Neue Gewohnheiten des Denkens lösen die alten ab, also eine gesündere Art, mit unserem Geist umzugehen, wird kultiviert. Unser Geist folgt immer sehr präzise den Anweisungen, die wir ihm geben. Jeder bewusste Gedanke ist eine Affirmation, die unsere Denkweise in der Zukunft bestimmt. Und so gilt es, immer wachsam zu sein und zu lernen, den Geist zu beobachten. Dann können wir die Gewohnheit schaffen, wach, präsent und achtsam zu sein. Die alten Gewohnheiten werden überlagert durch die neue Art, den Geist zu benutzen.
1.51. „Wenn dann sogar diese Prägungen zur Ruhe gekommen sind, wenn alles zur Ruhe gekommen ist, dann ist Nirbija-Samadhi erreicht.“ oder „Wenn nun auch diese Art der Programmierung zur Ruhe kommt, wird das Überbewusstsein ungebunden.“
Also auch die Erfahrungen, die wir in Samadhizuständen machen, bringen neue Prägungen, die es aufzulösen gilt. Die im Vers zuvor erwähnten neuen Saṁskāras sind zwar viel nützlicher als die alten, unbewussten, jedoch gilt es dann auch, diese aufzulösen. Die Saṁskāras, die wir im Laufe unseres unbewussten Lebens anhäufen, und die sich als hartnäckige Furchen im Geist gefestigt haben, gilt es zunächst durch förderliche Saṁskāras zu ersetzen, um am Ende auch diese aufzulösen.
Übersetzung und Kommentare von Narada: www.vedanta-yoga.de